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Im übrigen gestaltete sich mein Werdegang in der Bank zunehmend erfolgreich. Mein Platz war im vierten Folgeraum hinter der Schalterhalle, zugänglich durch einen langen Gang, der aber nur durch schulterhohe Trennwände gebildet wurde, dahinter saßen unnahbare Geschöpfe in schwarzen Röcken und cremefarbenen Oberteilen, die uns Lehrlinge keines Blickes würdigten. Genauer gesagt, gab es eigentlich nur Trennwände in diesem Bankgebäude, so daß man oberhalb einen Stein durch die ganze Länge hätte werfen können, nur daß nach hinten die Abstände immer enger wurden, immer schmaler, und ganz hinten in grellem Kunstlicht saßen wir — ich an einem Tisch von der Größe eines Plättbretts.
In den ersten zwei Monaten sortierte ich ausgehende Briefe, die ich in ein Kuvert mit Sichtfenster schob, das erforderte einige Aufmerksamkeit. In den nächsten zwei wechselte ich in die Geheimabteilung, wo die Kuverts keine Sichtfenster hatten, sie waren innen geschwärzt, nach einem weiteren Monat durfte ich sogar die Adressen schreiben. Daneben viermal in der Woche Berufsschule. Was hattet ihr?
Lombard.
Doch, einen Freiraum hatten wir, wir trugen weiße Socken. Zu unseren Anzügen trugen wir keine schwarzen, auch keine dunkelgrauen, anthrazit- oder asphaltfarbenen, nicht einmal mittelgraue trugen wir. Wir trugen weiße Socken. Das ist jetzt ausschließlich für Eingeweihte bestimmt, von London bis Singapur gab es damals — ich weiß nicht, wie es heute ist — ein geheimes Abkommen, eine Übereinkunft, Stolz der Banklehrlinge und symbolischer Protest. Jedenfalls blitzte es zwischen Hose und Schuh, wenn man unter die Tische schaute, und was sollte eine Bank dagegen einzuwenden haben.
Wir waren die «Whitesocks».
Und ja, einer von uns, er nannte sich Mortimer, hatte den Bogen ganz besonders heraus, er trug die allerweißesten Socken überhaupt, von allen bewundert, aber auch natürlich entsprechend beneidet. Sie waren wahrlich wie Leuchtfeuer. Woher bezog der Mortimer seine Socken? Bis wir darauf kamen — das heißt ich selber kam darauf: Eines Tages nach Bankschluß ging ich nichtsahnend die Kaiser Allee hinunter, sah vor mir im Gedränge weiße Socken blitzen. Wer ging dort? Mortimer. Nichtsahnend fröhlich. Hallo, altes Faß, wollte ich rufen, wie hängt’s denn, wie ist denn das Befinden, und wollte schon aufschließen. Da biegt der Mortimer plötzlich ab und betritt ein Bandagengeschäft, einen Laden für medizinische Artikel, Urinflaschen, Blindenstöcke, Verbandsrollen. Ich sehe ihn am Ladentisch mit dem Verkäufer verhandeln, sehe diesen einen Karton bringen, aus dem er etwas entnimmt. Bis es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen fällt: Arztsocken. Mortimers Geheimnis waren Arztsocken.
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Ja, da gab es natürlich kein Halten mehr. Mein armer Vater sagte dazu gar nichts. Stand da mit seinem Koffer, und wenn ich ganz ehrlich sein soll, empfand ich ihn damals als ziemlich unmodern. Man bedenke, in Zeiten weltweiten bargeldlosen Verkehrs transportierte er Geld in einem Koffer? Wechselgeld für die Kinokassen? Tageseinnahmen von Kaisers Kaffeegeschäft? Ja, wenn es sich um irgend etwas Verdecktes gehandelt hätte, aber für die Vossische Handelsbank im vierten Stock?
Einmal war der Koffer verschwunden. Vater hatte ihn auf den Schreibtisch gestellt, in seinem Arbeitszimmer, am Samstag, mit Sicherheit um drei Uhr dreißig. Jetzt war er weg. Niemals, nie zuvor hatte es in diesem Haus einen solchen Weltuntergang gegeben, man hätte meinen sollen, daß hier die gesamte Existenz überhaupt in Frage gestellt wurde, alles vorherige und alles künftige Leben, es wurde nicht gebrüllt, es wurde nur totenbleich gesucht. Aber das war die wirkliche Totenblässe, so als ob hier jeden Augenblick der Executer erschiene. Ich saß in meinem Zimmer und hörte die ganze Misere, half auch noch suchen. Also um drei Uhr dreißig hatte er den Aktenkoffer noch stehen sehen. Mit Sicherheit.
Wieviel war denn drin?
Frag nicht! sagte Vater totenbleich.
Sag mal, sagte ich, meinst du etwa den, der auf dem Schreibtisch steht? — –
Na, da steht er doch. — Da steht er nicht. — Da steht er doch. Da stand der Aktenkoffer tatsächlich unter dem Schreibtisch, vierzig Zentimeter tiefer. Also gut, ich hatte nur eine Notiz schreiben wollen, schließlich hätten sie ja auch etwas besser hinschauen können. Nicht meine Schuld. Zeigte es doch schließlich nur, in welch schlechter Verfassung sich mein Vater befand, und eigentlich hätte er mir leid tun müssen. Heute ist er tot. –
Aber vielleicht noch ein Wort zum modernen Geldverkehr. Ich meine den wirklich modernen, wie er wirklich stattfindet. Bewegt werden da nur noch Zahlen, eigentliches Geld gibt es gar nicht mehr. Ich spreche von den bunten Scheinen mit Kopf und Zahl und dem fruchtlosen Bemühen, sie einigermaßen fälschungssicher zu machen. Bargeld, um es einmal ganz drastisch zu sagen, Bargeld ist nur noch Ballast, nur noch totes Gewicht.
Bewegt wird etwas ganz anderes.
Wenn zum Beispiel eine Bank, sagen wir, die BFG, die Bank für Gemeinwesen, zweihunderttausend an die National Westminster in London, 50 Lombard Street sendet, dann tut sie das gar nicht, weder brieflich noch per Kabel oder durch sonstwelche telegrafischen Boten. Vielmehr speist sie die zweihunderttausend in ein potentielles Depot ein, ein einziges großes Zahlungsgebäude sozusagen, bestehend aus Milliarden und Abermilliarden Potenzen. Wo sie auf unerklärliche Weise verschwinden. Die Zweihunderttausend. Um aber, das ist die moderne Zeit, auf Abruf sofort wieder zu erscheinen.
Wenn man den Code kennt.
Es ist ein Sterben und eine Wiedergeburt mit null Verzögerung. Wobei sich dann das Neugeborene plötzlich in London befindet? Wie war das möglich, man weiß es nicht. Und es gibt auch keinen Code (den man kennt), es gibt Milliarden und Abermilliarden Codes, die noch dazu verschlüsselt sind, und selbst die Schlüssel sind möglicherweise noch verschlüsselt. Zu alledem.
Mit einem Wort: Geld wird nicht geschickt noch versendet, und schon gar nicht in ledernen Handtaschen, die plötzlich unter dem Tisch stehen.
Das sollte ein Witz sein.
– –
Vater sagte dazu kein Wort. Er stand da in seinem sorgfältig aufgedämpften Anzug, ich sehe ihn noch heute vor mir, mit der mit dem Lederpflegemittel behandelten Tasche in der Hand. Stand da völlig unmodern, fest im Glauben, fest in Position, wie wir es heutzutage gar nicht mehr zustande bringen würden, stand da und blickte auf meine weißen Socken.
Und dann erzählte er mir die Geschichte von Sindabati, dem Geldträger.
11
Die Geschichte von Sindabati, dem Geldträger.
Wenn der Großfürst von Radjnapur dem Großfürsten von Mahadnapur die Daghi, die Mitgift seiner sehr schönen Tochter Namu zustellt, dann hat er zwei Möglichkeiten: Er kann die fünfhundert Goldstücke, die fünf Körbe Perlen und den makellosen Saphir «Himmelsauge» im Geleitzug, bestehend aus vier einander mißtrauenden Hofbeamten sowie vierzig ausgesucht tapferen, kampfkräftigen Wächtern in voller Rüstung und Ausrüstung schicken — womöglich auf Kriegselefanten mit Aufbauten aus gestacheltem Leder, die den ganzen beschwerlichen Weg entlangtrompeten. Woraufhin Räuber aus allen Landesteilen herbeiströmen würden, da ein solcher Zug natürlich nicht unbeachtet bliebe, und es käme dann auf die Kampfeskraft beider Seiten an, ob die Daghi jemals ihr Ziel erreichten. Denn wieviele Räuber gibt es im Land.