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Lieber Freitag, Herzensbruder!

Es ist geschehen, sie haben mich.

Wer hat dich?

Sie haben mich gefunden, ich bin dran.

Woran, um Gottes willen?

Sie haben mich aufgespürt, Herzensbruder, hier in Grevesmühlen, sie haben mich am Wickel, verfluchte Scheiße, ich muß verschwinden und zwar schleunigst die Fliege machen, tut mir leid. Du wirst jetzt für einige Zeit nichts von mir hören.

*

Ja, gleich am Morgen, gleich als ich aufwachte hatte ich dieses Gefühl, eine irgendwie schlechte Aura, sie störte mein Ritual. Und als ich aus der Bahnunterführung auf die Straße trat, hatte ich es wieder. Das Gefühl. Ich machte meine Besorgungen, in der Eisenwarenhandlung, im Gemüsekeller am Markt, im Seilergeschäft Tenzien — so etwas gibt es hier noch —, ging sogar zum Stadtamt, zur Abt. für Versorgungsfälle. So etwas leiste ich mir manchmal. Aber als ich wieder auf die Straße trat, spürte ich das Ziehen im Nacken, oder wie soll ich mich ausdrücken, und als ich mich umdrehte — wie ich mich umdrehe, steht da ein dicker Mann, völlig …

Was soll ich sagen.

Völlig harmlos.

Die Otto-Grotewohl-Straße ist um diese Zeit fast leer, das Internet-Café sowieso geschlossen. Um diese Zeit. Kein Schritt hallt, keine Bahngeräusche, es ist tiefer Mittag in Grevesmühlen. Die Abzweigung Augustenstraße mit dem Eingang zur Unterführung leer, fast lächerlich leer, die Unterführung, in die ich eintauche, grünlich gekachelt, bräunlich abgesetzt. Und ich bin auch schon halbwegs durch, durch den Tunnel, also knapp bei meiner Bhn W4 angelangt, als ich vor mir diese Silhouette sehe. In besserer Verfassung hätte ich sie kaum bemerkt.

Sie steht vorgebeugt, offenbar wartend oder verharrend im Tunnelausgang, etwa dreißig Meter vor mir, unbeweglich und eindeutig nicht ortsansässig. Grevesmühlener laufen immer möglichst schnell durch, weil es hier etwas stinkt — sie sollten wenigstens die schwarzen Pfützen beseitigen.

Soweit, so gut.

Mein Gefühl hatte nicht getrogen.

Aber wie ich mich nun umdrehe, um den Rückzug anzutreten, denn der steht mir ja immer noch offen, wie ich also nach hinten schaue, zeichnet sich dort im Tunneleingang eine zweite, noch eindeutigere Silhouette ab. Vorgebeugt wartend. Mit einem Ding in der Hand und auf gar keinen Fall ansässig. Was soll ich sagen, es hatte wirklich nicht getrogen.

Ich bin dran.

Ich habe jetzt zwei Möglichkeiten, ich kann zügig weitergehen, ganz hindurch, und dem Mann am Ausgang in den Bauch stoßen. Oder. Ich kann den Augenblick nutzen und mich in Luft auflösen. Sie können aus der Helligkeit hier drinnen kaum etwas erkennen, sie werden denken, ich hätte eine Abzweigung genommen, die dann gar nicht vorhanden ist. Sie werden eine verrostete Eisentür finden und sich wundern. Ich kann mir den Ablauf genau vorstellen, auch wieviel Zeit für das Wundern verbleibt. Die ich nicht abzuwarten gedenke.

Um das ganz klarzustellen, es handelte sich um keine Panik.

Keine übereilte Reaktion meinerseits.

Ich bin von unten gleich ganz durchgelaufen, in gerader Linie durch die gesamte Bahnmeisterei, durch alle Haupt- und Nebenflügel gleich bis zum Ausgang Bleicherstraße. Draußen herrscht noch immer tiefer Mittag, kein Hund, kein Mensch, ich bin schnell gelaufen aber nicht zu schnell. Es sind acht Minuten zu Fuß bis zum Bahnhof, und es steht immer ein Zug bereit.

Nicht einmal die Zahnbürste hatte ich mitgenommen, keinen Hut, keinen Mantel — den lehmgelben Mantel mit dem lehmgelben Hut. Nicht das schöne Eßbesteck aus Dresden und nicht die Komfortdecke, nicht einmal meine geliebte Flauschjacke hatte ich mitnehmen können. Und ich habe mich nicht ein einziges Mal umgesehen.

*

Lüttich.

Sich in Lüttich ins Bild zu fügen ist eine Herausforderung. Es hätte auch Koblenz oder Saarbrücken sein können, doch erscheint Lüttich als Aufenthaltsort weitaus unsinniger, ideal für einen Ortswechsel. Lüttich ist völlig veraltet, hier treffen Neunzehntes Jahrhundert, wallonische Küche und ausgesprochener Deutschenhaß aufeinander. Kein Mensch, der seine Sinne einigermaßen beieinander hat, würde sich hierher verirren, im Vergleich zu Grevesmühlen ein Alptraum. Vor allem ist es die Sprache, die besonders unsinnig erscheint, eine Art französisches Platt, ein Patois, auf das sie hier auch noch stolz sind. Schwer zu imitieren. Ich habe immer den Grundsatz befolgt: Wenn in Rom, tu wie die Römer tun, dagegen heißt es hier: Wenn in Lüttich, beileibe keinen Lüttich-Dialekt sprechen, man erkennt dich sofort. Meinetwegen sprich Lothringisch, besser noch Kanadisch, das kann niemand kontrollieren. Fremdenlegionfranzösisch.

Du siehst, lieber Freitag, ich bin in vollem Gange, eine neue Deckadresse zu erfinden. Etwa als Handlungsreisender Frasonpierre, der sich auf der Rückreise (von Köln) im Abteil erster Klasse befindet. Von Familie, Frau und zwei Kindern in Lüttich — vielleicht etwas zwiespältig — erwartet? Der Mann hat ein Strichbärtchen, wie es heute nicht mehr modern ist, das ihm aber das Air eines sinnlichen Mannes verleiht. Vertreter für Weine? Soweit will ich nicht gehen, aber eine Getränkefirma ist ihm anzumerken (dazu kreiere ich einen leicht säuerlichen Geruch), auf keinen Fall ist er ein Deutscher.

Ich kann natürlich auch noch eine Baskenmütze drauflegen, oder besser einen Hut mit schmaler Krempe, wie ihn Jean Gabin trägt, und in Wirklichkeit ist Lüttich natürlich eine wunderschöne Stadt, wenn man den richtigen Blickwinkel hat.

*

Wie immer ist es ein regnerischer Tag, spätnachmittags, um halbfünf, als ich auf der Station Longdoz in Lüttich eintreffe, wie immer ohne Gepäck. Allenfalls mit einem Täschchen, in dem sich ein Viertel einer kalten Hasenpastete sowie eine angebrochene Flasche Languedoc befinden.

Wenig Betrieb auf dem Bahnhof. Ich haste über die Überführung, kein Mantel, auch etwas drahtiger als sonst, wahrscheinlich wegen der sehr eiweißreichen Küche. Ahh, Herr Qualtin auf der anderen Seite, ich grüße. Der Mann hastet wie ich, wahrscheinlich von einer Freundin kommend, von Frau und zwei Kindern zu Hause (zwiespältig) erwartet. Er trägt einen lang herunterhängenden Schal, der ihm hinten fast in die Kniekehlen reicht, und ich mache eine mentale Notiz, mir auch einen solchen zuzulegen. Es ist die Gegend der kleinen, aber sehr eleganten Geschäfte um die Passage Lemonier herum, durch die ich haste. Das Spiel der schwarzen Lichter, der Messingblitze und der offenen Düfte, wie wir sagen. Obwohl Bruxelles uns immer den Rang ablaufen möchte. Da ist ein Eckladen im Passagenkreuz, ein irrsinnig elegantes kleines Ungeheuer in grauschwarz gestreiftem Samt, in dem es alles gibt, alles für den Herrn, grau schwarz gestreifte Krawatten, Tigerzähne, kleine goldene Segelschiffe, Reiseetuis, Globusse aus Leder, kleingemusterte Seidenschals und, was immer ganz besonders elegisch macht, ein riesiges beleuchtetes Steuerrad aus Messing.

Denn dieses ist die Verfassung, in der man sich hier befindet, elegant und mutlos. Und das gilt ganz besonders für Handlungsreisende, die spätnachmittags auf dem Bahnhof eintreffen, Strichbärtchen oder nicht, Hasenpastete oder nicht, die Zugehörigkeit muss von innen her erarbeitet werden. Denn jetzt betrete ich die Selbstmörderbrücke. Das ist der lange eiserne Bogen über die Marne, gleich hinter dem Zentrum, wo sie Fanggitter am Geländer angebracht haben, wenn das etwas aussagt über diese Stadt der Witwen. Der Wind weht, die Lichter schimmern elegant, die Seele ist schwarz. Meine Seele. Von niemandem und nichts erwartet. Von gar nichts, weder Frau noch Kind, noch von einem Dialekt, den ich sowieso nicht sprechen kann. Man sieht, ich versuche hier eine Desolation zu vermitteln, ein Gefühl des Unwiederbringlichen, das notgedrungen jeden Menschen auf dieser Brücke über die Marne befallen muß, insbesondere aber den, der sie so schwer und unwiederbringlich betritt wie ich. Der Wind weht, das Wasser rauscht …