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Und dann das Wunder?

Ich möchte die Position nicht allzugenau angeben. Man geht also über die Brücke, unter der sie draußen vor dem Geländer eigenartig bauchige Drahtnetze gespannt haben, dann noch ein Stück die Rue sous l’Eau hinunter bis zu der Kohlenhandlung rechter Hand, wo sich ein schmaler Durchgang befindet, diesen auch noch hinunter bis zum Wasserwerk — das heißt, die Mauer mit den Eisentüren gehört nicht dazu, es sind Abstellplätze, die ganze Reihe hinunter und von der Straße her zugänglich. Ich weiß nicht, was die Leute hier abstellen, ihre Motorräder oder, was weiß ich, ihre Bootsausrüstungen. Ich jedenfalls schließe die Nr. 14 auf, ja, mit einem Schlüssel, dazu muß ich allerdings erst das verrostete Fahrrad und den Sack mit Blechbüchsen forträumen, auch noch die alte Feuerharke oder was das sein soll, aber dann schließe ich auf. Es ist sogar geheizt.

Ein sanftes teefarbenes Licht empfängt mich, eine leise Musik aus «Hotel Costes», beim Eintritt automatisch einsetzend, der Glenfiddich in der Karaffe, auf den lege ich Wert. In der Glaskaraffe auf dem Tisch. Beim Eintritt.

Oh ja, auch der leise Zimtgeruch der Wandverkleidung empfängt mich — dieses Holz ist in Lüttich leicht zu beschaffen, es dient zur Herstellung von Zigarrenschachteln (das habe ich früher nicht gewußt), und zwar der ganz teuren Sorten: Cuba fußlang mit der Bauchbinde. Nun, meine ganz persönliche Zigarrenschachtel hier mißt 3 × 2,5 Meter, 3 Meter hoch, mit Wasser- und Lichtanschluß, und sie empfängt mich wie einen langentbehrten Freund. Hinter dem Fensterschlitz an der Rückwand geht es tief hinab in einen Garagenhof und dahinter noch tiefer in die Kohlenhandlung mit ihren schwarzen Halden und den mechanischen Schauflern, wo ein Hund bellt. Ein ferner Hund im Hintergrund.

Ich bin zu Hause.

*

Wenn ich jetzt den Kleiderschrank öffne, hängen dort Mantel und Hut, oh ja, der gleiche lehmgelbe Mantel und der gleiche lehmgelbe Hut, auf dem Küchenregal liegt das sehr schöne Eßbesteck aus Dresden, auf dem Sofa die Komfortdecke, und die Perlmuttzahnbürste mit dem Lichteffekt, wenn man sie dreht, ist auch die gleiche — sogar die geliebte Flauschjacke befindet sich zusammengerollt auf dem Stuhl, wo sie hingehört — sie sieht etwas zu neu aus, ungetragen, aber das ist sie auch und wird es nicht lange bleiben.

Morgen früh, wenn ich aufwache, werde ich mich nicht erinnern, jemals an einem anderen Platz gelebt zu haben, jemals als Nicht-Lütticher. Ich werde mich wohl befinden und voll restauriert einem angenehmen, vielleicht etwas leichtfertigen lütticher Tag entgegensehen. Ich werde zur Rue Prison Tallot vorgehen, wo sie einen exzellenten Limburger zum Frühstück servieren, mit einem kleinen Weißwein, wunderbar! Heiße Waffeln, einen Café au chaud, Gott, tut der gut. Und ich werde mich dann noch entschließen, das blödsinnige Paar Sattelpistolen zum Anstecken zu kaufen, achtzehner Gold von Friquot. Geld genug scheint vorhanden.

Übrigens. Die Stahltür, ich meine die dicke eiserne Tür, hatte ich diesmal also nicht installieren müssen, ich wollte es nur erwähnen.

13

Lieber Freitag.

Ein Umstand bereitet mir Sorge. Wieso hatte ich die beiden Gangster nicht frühzeitig entdeckt. In Grevesmühlen sieht jeder jeden mindestens einmal am Tag, spätestens am Nachmittag, auf der Otto-Grotewohl-Straße. Ich wußte doch, wie sie aussehen, ein Dicker und ein Dünner, also wieso. Dafür gibt es nur eine Erklärung.

Man mußte sie ausgewechselt haben.

– –

Sie wechseln sie aus!

*

Ich gebe zu, es macht mir Angst. Bisher habe ich mich einigermaßen darüber hinweggesetzt, das sollte man mir zugestehen. Einigermaßen fröhlich. Ich habe meine Brüder Karamasow einigermaßen lächerlich gemacht (ich darf sie doch so nennen), ich habe mit Entsetzen gespielt, gewissermaßen.

– –

– –

Ich werde dir sagen, wovor ich Angst habe. Vor der Fingerfolter. Davor habe ich Angst, da beschleicht mich das Entsetzen, vor der ganz gemeinen und simplen Methode. Daß sie mir zusetzen, daß sie mir die Finger zerquetschen. Es soll Stunden um Stunden dauern, wie man hört, und es gibt nicht einmal die Möglichkeit, gnädig das Bewußtsein zu verlieren, weil es nur die Finger sind.

Lieber Freitag, erkennst du die Tragweite?

*

Dazu muß ich aber weiter ausholen …

Mein Vater hat gesagt, «wer dich nicht kennt, kann dich nicht verraten». Damit meinte er seine heißgeliebte Anonymität, die er Zeit seines Lebens vertrat. Und auch weiterhin zu vertreten versuchte, im Umgang mit Leuten, in der Wahl seiner Adresse, obwohl sich einiges bezüglich unserer Vermögensverhältnisse verändert hatte. Vater war fein geworden, er trug nun bestes Tuch, maßgeschneiderte Hemden, er fuhr einen Maybach, der ja auch nicht gerade billig ist, hechtgrau speziallackiert, blank wie eine Glasscheibe. Verstieß damit eigentlich gegen seine eigenen Prinzipien. Unsere liebe Mutter, Ehefrau, Schwester, Schwägerin und ehemals weißer Geist des Hauses war nur noch bettlägerig, ein Trauerspiel. Ich hatte meine Lehre als Bankkaufmann beendet und war, wenn man so wollte, tätig, wenn auch zeitlich begrenzt. Denn wir sind sehr oft umgezogen damals, nach Essen, nach Ludwigshafen, später nach Berlin. Es hielt meinen Vater leider nicht sehr lange an einem Ort, er kutschierte in seinem Maybach umher, und dann waren wir wieder umgezogen.

Zuletzt nach Luxemburg.

*

Luxemburg stellte eine Art Kulmination dar, in Luxemburg war man angekommen, und nicht nur finanziell. Wir bewohnten eine kleine «Obere Villa», die Vater zu einem, wie ich annehme, beträchtlichen monatlichen Preis gemietet hatte, einen viereckigen Turmbau mit seitlichem Flügel in massisch pompejanischem Stil. Es gab viele solcher Villen wohlsituierter Leute in dieser Lage, alle mit Blick über das Alzette Tal. An sich war das Haus viel zu groß für uns, und seit Mutters Tod herrschte Lotterwirtschaft, die jeder Schönheit abträglich war. Überall lag Zeug herum, das schöne Goldmosaik im Eingang war mit nassen Mänteln zugehängt und die Figuren des Treppenaufgangs im Staub vergraut. Überhaupt wurde Vater zunehmend nachlässiger, seit diese große lymphatische Frau von uns gegangen war. Ihre stille weiße Gegenwart füllte noch immer die Räume, ein ans Fenster gerückter Stuhl, den niemand fortgerückt hatte, eine geklebte Tischdecke, in die sie mit dem Brotmesser gefahren war, ein Handtuch (ihr Handtuch) am Haken. Ich glaube, zu Lebzeiten hatte Vater sie nie völlig wahrgenommen. Jetzt finde ich ihn plötzlich im Badezimmer, wo er selbstvergessen auf eine Haarbürste schaut, die dort liegt. Oder er steht in der Halle, steht dort mit geneigtem Kopf und horcht, horcht auf was? Weißt du nicht, daß ich schlafe? Ich muß das leider sagen, weil die Dinge eben doch nicht ganz so lagen, wie sie lagen, und die letzte Konsequenz — Gott steh mir bei — definitiv die letzte sein würde. Mein Vater, «Der Eismann» oder «Der Mann im Eis».

Einmal, als ich von meiner Arbeit in der Bank nach Hause kam, stürzte er mir mit einem anscheinend allzu hastig gepackten Koffer entgegen, ein Hemdsärmel hing heraus, und den Hut hatte er sich verkehrt herum übergestülpt. Er brüllte mir etwas zu und ich dachte, er hätte vielleicht einen eiligen Auftrag und der Flieger startete in wenigen Minuten. Es dauerte aber fast sechs Wochen, in denen ich vor Angst verrückt wurde — bis er zurück kam, und das ohne große Erklärung. Ich gebe aber zu, daß ich damals bereits meine eigene Erklärung hatte, eine sehr bestimmte sogar, schließlich hatten sich ja genügend Hinweise angesammelt. Nein, bezüglich Mitwisserschaft bekenne ich mich durchaus schuldig, immerhin war ich in diesen fast sechs Wochen nicht zur Polizei gegangen.