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Oh, das habe ich vergessen. Zwischendurch kamen zwei Herren, die sich höflich nach meinem Vater erkundigten, beide viel zu gut gekleidet, es klingelte, und da standen sie vor der Tür. Sie erschienen sogar zweimal, ein Kleiner und ein Großer, der Kleine hatte Schuhe aus weißem und braunem Leder, die wie Tiere im Zoo aussahen. Die Höflichkeit reichte auch nur bis zur Mitte des zweiten Besuches, brach dann abrupt ab, und beim Verlassen des Hauses tat der Größere der beiden etwas Eigenartiges, er drehte sich plötzlich um und zeigte mit dem Finger auf mich. Was immer das bedeuten sollte.

*

Luxemburg war zu dieser Zeit gerade entdeckt worden, ich meine das Luxemburg der Steuermüden, der braven kleinen Betrüger, die hier Tag für Tag eintrafen und honorig durch die Stadt liefen. Voller Angst, versteht sich, aber auch voller Bedeutung und Gewicht, weil sie sich für reich genug hielten, von dem Umstand, der sie herführte, Gebrauch machen zu müssen. Mit gesetztem Kinn und feinem Lächeln und möglichst unerkannt, natürlich, daran erkannte man sie.

Genauer gesagt gab es drei Sorten, die sich im Stadtbild abzeichneten: Die teure Sorte, die mit rothaarigen Sekretärinnen im «Grand» oder im «Imperial» abstieg — mit schwindelerregendem Blick auf die Unterstadt —, wobei diese, die Sekretärinnen, eine Nacht lang ungeniert laut stöhnten (ich habe es gehört). Die zweite, die mittlere Sorte hingegen, war eigentlich die interessantere. Es waren Ehepaare, ältliche oder mittelalterliche, Hand in Hand, er hellgrau mit Mütze, sie im Kostüm von Hertan (nicht Hertie). Das war das Interessante, daß sie sich an der Hand hielten, wohl weniger aus Liebe: Sie kamen im Auto mit Düsseldorfer Kennzeichen und wurden hier für einen Tag kriminell. Und dann gab es noch die wirklich Kriminellen, die mit kleinen Schachteln im Bahnhofsviertel abstiegen, klar erkennbar als untere Sorte. Sie trugen feine Anzüge, nein, keine Streifen, derzeit trugen sie Hahnentritt, dazu Schuhe aus weißem und braunem Leder, naja, das ist natürlich ein dummes Klischee, in Wahrheit waren sie nicht zu erkennen, außer daß sie im Hotel Rio oder im Great Western abstiegen. Der Bahnhof in Luxemburg übrigens ist ein phantasievolles Gebäude im Ananas-Stil der Jahrhundertwende mit wuchernden Säulen, Türmen und Figuren, und insofern schon eine Reise wert.

*

Es kam der Tag, an dem mein Vater zusammenbrach, laut und scheppernd in der Küche, wo er Kartoffelkroketten für sich in der Pfanne briet. Ich hörte das Geräusch vom oberen Stockwerk her, es war ein Stapel Geschirr, der zertrümmert am Boden lag, daneben mein Vater mit ausgebreiteten Armen. Ich glaube, er hatte zusammenbrechen w o l l e n, angesichts der fürchterlichen Lage, in die er sich gebracht hatte, das glaube ich heute, damals dachte ich zunächst, er hätte einen Herzschlag erlitten.

«Vater!»

Er betrachtete mich, als ob er mich zum ersten Mal in seinem Leben sähe, dann richtete er sich auf.

«Erinnerst du dich an das Haus in Minden, in dem wir wohnten? Mit Mutter?»

«Vater!» rief ich, «beruhige dich doch!»

«Mit Mutter.»

«Es ist ja gut, Vater», rief ich in meiner Angst, «es ist nicht schlimm, es ist gar nicht schlimm, du bist gestürzt.»

«Nein, nein», beharrte er, «in Minden, weißt du, was da im Hof war, was ich da gemacht habe?» Was hatte er gemacht, den Dreck von einer Seite auf die andere gekehrt, wie ich mich erinnerte, von einer beschissenen Seite auf die andere.

«Nein, nein, was ich da hatte?»

«Was hattest du.»

«Einen Briefkasten!»

Einen Briefkasten, das machte mir nun wirklich Angst, daß er darauf bestand. Ich holte ein nasses Tuch, ein Glas Wasser, seine Herztropfen, hatte er überhaupt Herztropfen? Ich glaube nicht.

«Nein, nein», er richtete sich auf.

«Jetzt leg dich wieder schön hin, am besten aufs Sofa, siehst du, da kannst du mir in aller Ruhe die Geschichte von deinem Briefkasten erzählen.»

«Im Hof», krächzte er.

«Ja, ja, im Haus, eine ganze Reihe», beruhigte ich ihn, «für jede Wohnung einer.»

«Nein, nein», jetzt krächzte er wirklich.

– –

«Der Briefkasten im Hof!!!»

Oh, Gott, es war heraus, Vater war wirr im Kopf geworden. — In diesem Augenblick schlug die Uhr in der Diele zwölf, und wie durch Zauberei schlugen kurz hintereinander auch die Uhren von St. Michael, von St. Jean und die der von hier aus nicht sichtbaren großherzoglichen Residenz — dazu muß man wissen, daß Luxemburg ein höchst dramatisches Stadtbild hat, reich gebaut, imponiert es vor allem durch dramatische Höhenunterschiede. Von den Festungswällen schaut man senkrecht zweihundert Meter in die Tiefe, wo kleine Eisenbahnen fahren, wo Parks und Obstgärten sich erstrecken, Kinderspielplätze mit ganz winzigen Kindern ohne Laut bei diesem Höhenunterschied. Das erklärt auch, daß die Stadt selbst niemals, weder von den Habsburgern, noch den Franzosen oder Niederländern je erobert wurde. Man saß hier immer in Sicherheit.

Zwölf Uhr. –

14

Lieber Freitag.

Man nennt es einen «Briefkasten». Leute kommen und legen dort etwas ab, und dann kommen andere Leute und holen es sich. Es ist ein geheimer Ort, ein Versteck. Ein Schließfach, ein Sandkasten auf der Straße, ein blindes Loch, ein Schrotthaufen irgendwo in einem Hof.

Wir wollen uns jetzt nicht hinstellen und behaupten, wir hätten gar nichts gewußt. An der einen oder anderen Stelle ist natürlich immer etwas durchgesickert. Nicht umsonst hatten wir uns Sorgen gemacht, Vaters Tätigkeit betreffend, ich weiß, daß meine arme Mutter oft geweint hat, dabei gab es eigentlich gar keinen Grund. Vaters Tätigkeit hat sich, genau genommen, immer noch in den Grenzen des durchaus Legalen bewegt — er betreute das Geld anderer Leute, viel Geld, großes Geld, sehr großes Geld. Nur fragt es sich, wessen Geld. Leute kamen und legten es ab, und er nahm es und leitete es in die Kanäle seiner Bank ein, wo es verschwand. Wo es durch die unendlichen Verästelungen lief, durch das Geben und Nehmen, durch die Zinssätze und Währungsdifferenzen und die Zinssätze der Zinssätze, wo es zum Rüstungsfonds und Staatsdarlehen von Venezuela wurde oder Kamerun. Als Rücklagen, Optionen und Kursgarantien, die sich veräußern ließen, und wenn das viele Geld, das sich möglicherweise auch noch vermehrt hatte, wieder in der Mindener Filiale erschien, war es gewaschen, war es — das viele schmutzige Geld — sauber.

Vater, der Geldwäscher.

*

Jawohl, eines Tages hatte er mich beiseite genommen, um ein ernstes Wort mit mir zu reden. Ich war acht Jahre alt damals, ich weiß es, weil ich etwas ziemlich Schlimmes angestellt hatte. Er sagte:

«Verbrechen zahlt sich nicht aus!»

Crime does not pay.

Das hatte er gesagt und hatte es ernst gemeint, soweit es die Folgen, die Proportion von Gewinn und Verlust betrifft, und den Dauerschaden, der unweigerlich resultiert. Was ich nur bestätigen kann. Noch heute empfinde ich ein Schamgefühl, weniger über das, was ich getan hatte, als daß es so leicht entdeckt wurde. Ich habe es nie wieder getan. Dabei hatte das Ganze eigentlich mehr Symbolcharakter gehabt.

– –

Kindergeburtstag. Gartenfest mit allem, was dazugehört, Torte und Kakao, Trampolin für Sechs- bis Achtjährige, alle Freunde waren da, Mädchen mit Zöpfen, eine großspurige Eisenbahn wurde zwischen Blumenrabatten aufgebaut. Denn es war ein reiches Kind, ein Kind reicher Eltern, dessen Gabentisch wir hier bewundern durften. Da gab es zum Beispiel diese Kinderpost, oh, so etwas hatte man noch nicht gesehen, ich glaube, auf der ganzen Welt gab es keine üppigere Kinderpost. Mit Briefen, Briefmarken, Briefwaage, Paketwaage, Paketen, einen ganzen Schaltertisch gab es, mit Glasabteilungen, Zahlkarten, Postanweisungen, Wertsendungen. Und dann gab es natürlich auch Geld, ganze Packen davon, in großen Mengen und hohen Nominationen. Ich weiß nicht, vielleicht sollten Lotterieeinnahmen transportiert werden? Oh, es war wundervolles Geld, absolut echt und feingestochen, die blauen Hunderter, die braunen Tausender — wir lebten ja noch in der Mark-Zeit — sogar das Papier fühlte sich echt an, von Künstlerhand geschaffen.