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Lieber Freund.
Das Leben ist ein Säbelzahntiger. — Nicht daß ich mich auf der Flucht befinde, so kann man es nicht nennen, aber da sitzt mir im Zug dieser freundliche, kleine, ältere Herr gegenüber und hat soeben einen Fehler begangen, der meine Befürchtungen nur bestätigt. Er hat sich nach dem Zug nach Grevesmühlen erkundigt, in dem er doch sitzt.
Schon seit Hagenow ist er mir aufgefallen, eigentlich schon seit Güstrow, und wenn ich es mir recht überlege, schon seit Schwerin. Und es sind auch keine großen Dinge, nur kleine Unebenheiten, die nicht ganz ins Bild passen, eigentlich gar nichts, und dann wiederum zuviel. Zum Beispiel trägt der Mann einen Hut, und zwar deutlich, als ob er sich etwas davon verspräche. In einer allgemein hutlosen Zeit.
Im Wartesaal zum Beispiel.
Wenn ich den Wartesaal in Hagenow betrete, um vor der Abfahrt noch schnell ein Bier zu trinken, sehe ich ihn über der Ebene von Köpfen, diesen Herrenhut, und dann werde ich doch mißtrauisch.
Um eines klarzustellen: Ich bin nicht geisteskrank, und ich leide auch nicht unter Einbildungen. Mein Mißtrauen hat eine ganz solide Grundlage, es ist der Instinkt, ohne den ich es niemals bis hierher, bis zu diesem Ort, geschafft hätte. Nicht lebend jedenfalls.
In Hagenow hatte es mich bereits angeweht, gleich als ich die Tür öffnete, diese Mischung aus Bierdunst und feuchten Habseligkeiten, die sie alle mit sich führen. Ich kann nie den Finger darauflegen, was es eigentlich ist, das mich anweht, der Hut jedenfalls ist nur Staffage, und die bierfarbene Täfelung, der Tresen, das Schild «Zu den Bahnsteigen» sind auch nur bedrückend, nicht wirklich tödlich. Vielleicht eine Geste, die der Mann vollführt, vielleicht seinen Nachbarn betreffend, aber irgendwie sieht es aus, als ob er zeigt! Ein kleiner Mann, es ist immer ein kleiner dunkel gekleideter Mann, der etwas anzeigt.
Ich führe nie Gepäck mit mir, keine Tasche, keinen Schirm, vielleicht einen Mantel, den ich mir gerade über die Schulter geworfen habe. Jedenfalls kann ich jederzeit vom Tisch aufstehen und verreisen oder mich aus einer Unterhaltung mit dem Zeitungshändler lösen, um, mir nichts dir nichts, in den nächsten Express nach Kopenhagen zu steigen. Dazu brauche ich nur Geld, lockere Tausend in der Brusttasche, nein, auf keinen Fall Kreditkarten, denn die sind lebensgefährlich, wenn ich das einmal vorausschicken darf. Oder ich reise plötzlich nach Lüttich, um auch das vorauszuschicken.
Jedenfalls scheue ich instinktiv wie eine Trakehner-Stute, die auch nicht weiß, warum sie scheut (das schwarze Auge einer Straßenwalze?), meine Sicherheit jedoch heißt: Regionalzug nach Lübbe um zwölf Uhr zweiunddreißig — also in acht Minuten — über Bärlang, Schwante, Grevesmühlen, wo immer es mich hinführt.
Wobei ich mir nicht sicher sein kann, ob er dann nicht doch im Zug sitzt, im ersten Wagen oder im zweiten. Also stehe ich auf und gehe in den dritten und dann beim Einfahren in den Grevesmühlener Bahnhof in den vierten Wagen, nein, ich steige aus.
Steige kurzerhand aus.
Winke einer Mama, die sehr erstaunt ist, unter den im Wind schaukelnden Blumenkästen zu. Grüße ein paar erstaunte Bekannte auf dem Bahnsteig, gewissermaßen von Ferne. Biege dann plötzlich ab, um auf die Toilette zu gehen. Vorne hinein und hinten hinaus, indem ich zwei, drei Spülungen betätige, manchmal imitiere ich auch Benutzer, Benutzer einer Damentoilette zum Beispiel. Hört sich merkwürdig an, ist aber nur eine meiner Tugenden, nämlich mich einzufügen, zehn Minuten unter besonders erschwerten Umständen sitzend. Die Angst — habe ich einmal gelesen — ist die Tugend der Fluchttiere, und sie ist ihre edelste, bewahrt sie ihnen doch das Leben. Meines hat sie bis hierher bewahrt, bis nach Grevesmühlen.
Draußen erwartet mich eine regennasse Otto-Grotewohl-Straße, soweit ich auf dem Schild erkennen kann, anscheinend heißt sie immer noch so. Der Bockwurststand ist geschlossen, kein Mensch auf der Straße. Doch, drüben geht einsam die Käthe, die mich nicht sieht (ich sie auch nicht), aber wie sollte sie auch, bei diesem Wind, der ihr den Schirm aufstülpt, so daß sie blaß und dünn aussieht, mit ihren hellen Augen. Ich weiß natürlich nicht, wie sie heißt, aber es ist eine Käthe. Und wenn sie mich gesehen hat, auf dieser regennassen Otto-Grotewohl-Straße, auf der niemand geht, dann hat sie mich wahrscheinlich für einen Butte Beerbohm gehalten. Denn so geht das.
Mir ist kalt, ich friere, mir ist auch nicht besonders wohl, meinen Abgang betreffend. Vielleicht hätte ich doch nicht aussteigen sollen, oder eher verdeckt auf der Gegenseite des Bahnsteigs. Es sind die Unwägbarkeiten, die tiefhängenden Wolken, die Pfützen auf der Straße, der in der Ferne bellende Hund.
Und dann das Wunder.
Am Ende der Straße, dort wo sie auf die Augustenstraße trifft, zweigt eine Fußgängerunterführung nach rechts ab, eigentlich schon zur Augustenstraße gehörig. Es ist eine grünlich gekachelte Röhre unter dem Bahngelände hindurch, wie sie heutzutage nicht mehr gebaut würde, mit steilen steinernen Treppen an beiden Enden. Drüben steht die Bahnmeisterei, ein langgestrecktes Ziegelgebäude, das bei diesem Wetter wie ein großer roter Schwamm aussieht, und dort steigt die jenseitige Treppe direkt an der Seitenwand auf, das kann man von hier aus sehen. Und als ich mich in dem Tunnel befinde, so funzelig beleuchtet, daß ich nicht genau ausmachen kann, ob mir möglicherweise jemand entgegenkommt — ein Selbstmord wäre hier verständlich —, muß zu alledem über mir ein Zug donnern, gerade über meinen Kopf, ich glaube, es hätte geringere Anlässe gegeben.
Aber dann gibt es dort, etwas zurücktretend, eine Nische in der Kachelwand, an der man vorbeiläuft, und dort in der Nische gibt es eine Tür: Bhn W4, unbeleuchtet und kaum sichtbar, wenn man vorbeiläuft. Und wenn man es sähe, was heißt Bhn W4.
Als ich aufschließe, donnert der Gegenzug über meinen Kopf hinweg. Donnert auch noch eine Weile den Korridor entlang, der sich hinter der Tür auftut. Es geht ein paar Stufen hinauf, dann ca. dreißig Meter geradeaus, man ahnt, es ist die «Bahnmeisterei», die ich hier durch einen Kellereingang betrete, jenes langgestreckte Gebäude, immer noch so benannt, obwohl es inzwischen nur noch Bahnschuppen oder Lagerhaus ist. Neuerdings hatte man an der den Bahngleisen abgewandten Seite sogar ein paar Wohneinheiten fertiggestellt. Woher ich das weiß? Abwarten. Es geht jetzt durch die ganze Länge, die Korridore tragen noch immer diesen graugrünen Behördenanstrich bis zur Schulterhöhe, allerdings hat man an den am Ende befindlichen Fenstern große Topfpflanzen aufgestellt. Ein Versuch, möchte man sagen, aber eben den neuen Verhältnissen angemessen.
Wenn ich hier über den hallenden Korridor gehe, falle ich gar nicht auf, jemand, der mich sähe, würde mich wahrscheinlich für Butte Beerbohm halten. Also gut.
Die Gerätekammer liegt im dritten Stock gleich neben dem Treppenaufgang, kenntlich an dem rautenförmigen Fensterchen der relativ schmalen Tür, die ich nun mit meinem Schlüssel, den ich bei mir trage, aufschließe, und dann: Wärme, Wärme, Ruhe, Ruhe, teefarbenes Licht.
Willkommen im Besenschrank.
Ich bin zu Hause.
Spreche ich von einem Wunder? Es ist eines! Zur Begrüßung habe ich mir einen sanften Glenfiddich in Glaskaraffe hingestellt. Zum Wohligsein. Die Holztäfelung, die ich aus einem ganz erlesenen Holz habe anfertigen lassen, atmet einen leisen zimtartigen Geruch. Es ist Abend. Und, ja, die leise einsetzende Musik aus «Hotel Costes», die darf ich nicht unerwähnt lassen, es handelt sich um einen schwer zu beschreibenden braunsamtenen Tango, broch, broch, broch.
Die Abstellkammer, die auf mich gewartet hat. Die immer wartet, jederzeit und überall mit automatisch einsetzendem Tango.
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Lieber Freund.
Die Kinderseele findet ihren Platz, weil sie weiß, wo er zu suchen ist.