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Vater war inzwischen wieder erstaunlich gelassen. Ging mit mir weiterhin ins Fleur de Lit, unseren Mittagstisch, wo wir sogar eigene Servietten hatten. Ging mit mir am Marktplatz einen heben, um die — übrigens auch sehr paranoischen — Tagestouristen mit ihren Aktentaschen zu begutachten. Vaters Lebensgeister bewegten sich überhaupt wieder in aufsteigender Linie, ich vermerke das, weil uns damit das Folgende um so härter traf. Einmal kam er mit einem Vogel nach Hause, einem ziemlich häßlichen Ding aus weißem Pappmaschee, er hatte es in irgendeinem trendigen Laden gesehen und sein Herz daran gehängt. Es sollte wohl ein Adler sein, Symbol für Freiheit und freiem Davonfliegen, aber es sah eher wie ein trauriger Kakadu aus.

Was hast du denn da um Gottes willen angebracht, hatte ich noch gesagt, das ist ja eine wirkliche Mißgeburt, ein wirklich trauriger Vogel. Nein, ich hätte es nicht sagen sollen, nicht im Hinblick auf die kommenden Ereignisse. Immerhin hatte er sein Herz daran gehängt.

Eines Tages also kommen wir nach Hause. Wir hatten wohl wieder einen Umtrunk genommen, oder war es eine späte Tasse Kaffee im Scène Noir nach Bankschluß. Vater bemerkte es gleich in der Haustür, weil es metallisch roch. Ich roch nichts.

«Es riecht metallisch», sagte er, «was ist das?»

In der Eingangshalle war nichts zu sehen, da stand nur der Palmkübel mit der Kentiapalme sowie das Telefon auf einem Tischchen, aber nach ein paar Schritten blickt man in das Arbeitszimmer, und dort: Chaos.

So etwas hatte ich zuvor nur in Kinofilmen gesehen.

Hier war jede Schublade herausgerissen, jedes Buch aufgefleddert, Zeitungen, Akten, Rückseiten von Bildern, jedes irgendwie Papierene, selbst harmlose Adventkarten, Geburtsgrüße zerfetzt und zerschreddert, die vierundzwanzigbändige Enzyklopädie vollkommen auseinandergenommen, jeder einzelne Band vollkommen aus der Bindung gerissen. Ein einziger wüster Haufen. Als ob eine Herde Hunnen sich darüber hergemacht hätte.

Sogar der Kakadu …

«Was haben sie bloß mit dir gemacht!!!»

Also, dem Kakadu war wirklich übel mitgespielt worden. Die Flügel waren abgerissen, die Beine abgerissen, der ganze Vogel umgestülpt und ausgeweidet. Der Kopf fehlt ganz — wir fanden ihn nachher im Klo.

«Was ist dir geschehen!!!»

Ja, so war Vater. Hier hatte sich Ungeheuerliches begeben, Werte waren zerstört, die Ordnung, der Anstand, die Menschlichkeit in Frage gestellt, hier war eine ganze Bibliothek vernichtet! Gar nicht zu reden von unersetzlichen Dokumenten, von Belegen und Quittungen. Die ja auch nicht mehr zu ersetzen waren. So gründlich hatten sie gearbeitet, so sorgfältig diese Welt zerkleinert. Und er?

Er grämte sich um einen häßlichen Vogel.

So war der Mann.

Nachher saßen wir erschöpft in den beiden Sesseln, deren Polster in Streifen geschnitten waren, und besprachen die Lage, soweit da noch etwas zu besprechen war. Wir hatten uns zur Beruhigung erst einmal einen Tee bereitet, bestehend aus Mate und Coca-Blättern, den Vater von einem seiner Ausflüge mitgebracht hatte und der wirklich ungemein beruhigte. Denn das scheint eines dieser Phänomene zu sein, daß nämlich größte Aufregung, allergrößte, im Gegenzug in große Ruhe münden kann. Weshalb wir am Ende da saßen, als hätten wir ein höchst befriedigendes Tageswerk vollbracht.

«Was aber», fragte ich ihn, «haben die Brüder denn so sorgfältig gesucht?» Ich wußte es ja, das heißt, ich wußte es eigentlich nicht.

«Den Schlüssel.»

«Den Schlüssel?»

«Den Schlüssel», bestätigte er.

Inzwischen hatten wir ein Feuer im Kamin entfacht, in dem die Überreste einer einst umfangreichen Bibliothek brannten, und ich darf sagen, munter brannten. Zur Zeit waren es Teile der Encyclopedia Britannica sowie ein halber Zentner unbezahlter (oder bezahlter) Rechnungen. Und zugleich eine Art Befreiungsakt.

«Sie haben ihn aber nicht gefunden.»

«Den Schlüssel?»

«Den Code. Weil er nirgends steht, deshalb, er steht nur hier», Vater tippte sich an die Stirn, «nur hier drin.»

Wer hatte denn jemals wissen können, wie gut Winnetou I, II und III brennen. Ein halber Meter Journal für das Bankgewerbe, Donnerwetter. Die Hitze wurde so groß, daß wir anfingen, Hemd und Hose auszuziehen, wir wurden sogar lustig.

«Du hast also den einen faulen Betrag mit einem anderen faulen Betrag gedeckt?»

«Was hätte ich sonst tun sollen.»

«Und diesen faulen Betrag mit einem weiteren — — wie oft hast du denn das gemacht!»

– –

«Vater», rief ich voller Entsetzen aus, «das war das Geld der …» Ich sprach es nicht aus, ich konnte es nicht aussprechen. Schlimmer hätte es gar nicht kommen können.

«Na und», fragte ich mit weiterem (sehr viel weiterem) Entsetzen, «wieviel war es denn, wie viel?»

«Frag nicht.»

– –

Und dann packte er meinen Arm — aber so gewaltig, daß ich dachte, er wollte ihn mir neu einrenken. Ich habe mir später überlegt, daß, wenn diese Idioten irgendeine Wanze zurückgelassen hätten, irgendwo, hätten sie jetzt hören können, was sie wissen wollten, und wir hätten uns den ganzen Aufwand sparen können. Aber sie hatten eben nicht, diese Idioten.

«Du mußt jetzt zuhören!!! Ganz genau zuhören!!!»

«Vater!»

«Nein, jetzt nicht. Du mußt dir das jetzt ins Hirn brennen!»

«Brennen?»

«Brennen», bestätigte er, «niemals und nirgendwo hinschreiben!»

Er hob den Finger.

«Der Code besteht aus fünf Zahlen und vier Buchstaben. Er lautet:

15

Lieber Freitag.

Ich schreibe dies ihm und seinem Schicksal zum Gedenken, und es ist ein trauriges Kapitel, das ich schreibe.

Mein armer Vater.

Ich hatte seine Seele einmal in einer Schreibtischschublade gefunden. Skizzen und Pläne, einen ganzen Haufen, ich habe geweint. Pläne für Schlafsäcke, für Polsterstiefel, für warme Mützen, Körperhüllen zum Überleben in Eiswüsten. Man bedenke, Eiswüsten! Ausgemessen, berechnet, sorgfältig beschriftet, eine Arbeit zum Weinen.

Da ist dieser Mensch, der sich anscheinend nichts sehnlicher wünscht, als dorthin zu gehen, wohin ihm niemand folgen kann. Im Eissack, in der Polarausstattung, man bedenke. Es war nicht so sehr die völlig unsinnige Vorstellungskraft, die mich weinen machte — die Amundsens und Eriksons hatten auch ihre Einfälle —, es war die Sorgfalt, mit der hier ein eisiger Traum geplant worden war. Die unbeirrbare väterliche Präzision.

Die Arktis.

Sie ist nicht stumm, sie singt. Sie verspricht immerwährende Einsamkeit, es sind die feinen Eiskristalle, die aneinanderreiben, ein immerwährendes Sirren, in das überlaut knirschend ein Tritt hineinfährt. Die anderen sind dann kaum noch zu sehen, anfangs hatten sie aufgeholt, später sind sie zurückgeblieben, bald werden sie im flachen Licht verschwunden sein. Du gehst, du gehst immer weiter.

Sie können dir nicht folgen, weil ihnen Eiszapfen unter der Nase wachsen, bei sechzig Grad Minus. Als Beispiel. Du hast dir erfindungsreich einen Tropfenfänger gebaut, ein Töpfchen in der Kopfhaube, so daß dir keine Eiszapfen wachsen. Du gehst, gehst immer weiter, fernab das Jaulen der Verfolger.

Immer nach Norden, in die Nacht hinein, in den weißen Tod (die Nacht ist weiß), hier kann kein lebend Wesen, nicht einmal Milzbrandbakterien können hier bestehen.

Hast du das gewußt?

Daß die Eiswüste nachts trommelt?

Selbst dem Eis ist es bei Minus achtzig Grad zu kalt, es zieht sich zusammen, es reißt und fegt in Splittern davon. Und du gehst hinein in den dröhnenden Horizont, wo die weiße Sonne eine Handbreit hoch steht (es ist Mitternacht), dein Todesurteil an dir selbst zu vollstrecken. Ist das genügend unwirtlich? Ich glaube nicht, daß es etwas noch Unwirtlicheres geben könnte. Und dann bleibst du stehen, neben einer Eisbarriere etwa, oder einem Gletscherturm und legst dich schlafen.