Выбрать главу

– –

Ich kann nicht sagen, daß ich eine unglückliche Kindheit hatte, eine etwas enttäuschende vielleicht: Sie fand in einem länglichen Zimmer mit ausnehmend häßlicher Tapete statt, die mich allerdings bereits mit zwei Jahren beeinträchtigte. Tatsächlich habe ich eine bleibende Erinnerung an die versetzten Rauten und Maiskolben auf graugrünem Grund. Lag da in meinem Bettchen und folgte dem Rautenverlauf vom Fenster über die Längswand bis zur Tür, mehr und mehr der Überzeugung, daß diese Welt definitiv nicht bewohnbar sei.

Vom guten Geschmack ganz zu schweigen.

Auch mein Spielzeug war häßlich, es war rot, blau und gelb, und wer, um Gottes willen, hatte sich solche Farben ausgedacht. Kam ein Onkel und brachte ein neues Kegelspiel oder ein neues Werkstattauto, brauchte ich nicht lange durch die Verpackung hindurchzuraten: Es war rot, blau und gelb. Gefällt es dir? Oh ja. Ist es schön? Eine ausgesprochene Scheußlichkeit.

Ich war wohl ein blasses Kind. Mit vier Jahren von tiefem Ernst erfüllt, mehr noch, von tiefer Besorgnis — wenn ich mich auf den alten Fotos betrachte, auf denen ich immer weiße Krägelchen trage —, feststeht, daß ich ein Kind voller Ahnungen gewesen sein muß. Ich baute Höhlen und Schlupflöcher, ich baute einen absolut sicheren Hochsitz auf dem Kleiderschrank, wo ich lebenslang ausharrte und mein Schicksal erfüllte. Später mit sechs oder acht erfüllte es sich dann in den geliebten dickseitigen Büchern und zwar mehrfach und endgültig mit Sigismund Rüstig, mit den Wölfen vom Haselberg, mit Trapper John und SOS Eisberg. Selbst mit Huckleberry Finn. Hätte mich jemand nach meinen Berufswünschen gefragt, wären es nicht Pilot oder Rennfahrer gewesen, sondern unsichtbarer Geist, aber mich fragte niemand. Mein Vater war meist abwesend, meist auf Reisen, und meine Mutter, eine große, sehr weiße lymphatische Frau, war auf ihre eigene gütige Art auch fern, auch abwesend.

Zum Beispiel sonntags in der Kirche. Ich saß neben dieser weißen Frau auf der Kirchenbank, die hart und steil war, unsinnlich und ohne Fußstütze. Sie blickte milde auf mich herab — ja, milde und sogar gütig, das war mir klar, aber mir war auch klar, daß sie mich gar nicht sah. Die Kirche war kalt, anstrengend und unendlich ausgedehnt an den Sonntagen, wenn ich auf der Bank saß.

Wie überlebte ich? Meine Füße schliefen ein. Die langsame Stimme des Pastors, der noch nicht einmal eine Halskrause trug, ergab einen durchgehenden sonntäglichen Grauton. Eine langgestreckte, wie soll ich sagen, eine ungeheuer langgestreckte Ermüdung, die nicht enden wollte. Ich trug zwar immer eine Schreckschußpistole bei mir, aber hätte ich sie abfeuern sollen? In dieser großen zugigen Kirche mit der dunkelgemauerten ungeheuren Höhe? Wohl doch nicht.

Doch, einen Lichtpunkt gab es, wenn der Pastor von der Kanzel sprach, und das war die Kanzel selbst. Die allerdings war eine Pracht, hell und hoch an einen massigen Strebepfeiler gebaut, ganz Bein in Bein geschnitzt und gedrechselt und nur über eine Wendeltreppe erreichbar. Hier bliesen pausbäckige Trompeter, hier türmten sich Türmchen auf Türmchen, genoppte Hütchen auf genoppte Hütchen. Beinerne Blumen blühten auf der umlaufenden Balustrade, kleine Sänger hielten ein Dach aus Wolken, während eine große beinfarbene Muschel die ganze Pracht von unten stützte. Ein wahres Vogelhaus.

Von wo das Wort verkündet wurde.

Hier zog ich ein.

Nicht gleich am ersten Sonntag und auch nicht am zweiten, ich hatte überhaupt nicht vor, hier einzuziehen, vielmehr mußte der Gedanke erst reifen, ein längerer Prozeß von Ostern bis Pfingsten. Auch waren vielleicht einige bauliche Veränderungen notwendig oder andere Überlegungen, etwa die Mengen von Limonaden und Würstchen, die ich hier würde lagern müssen — ich hatte da ziemlich genaue Vorstellungen. Oder die Deckenfrage, die war auch wichtig, denn es würde kalt werden, nachts in der Kirche. Genau genommen — in dieser Beziehung machte ich mir nichts vor — war es natürlich eine Zweckentfremdung.

Es war mein erstes größeres Bauvorhaben, der Umbau von St. Martin. Der allerdings bald größere Dimensionen annehmen sollte.

Zunächst zog ich eine Zwischenwand ein, eigentlich waren es zwei, die in einem flachen Winkel zueinander standen und die Ziegelwand des Pfeilers abdeckten und einen, sozusagen, Rückenschutz ergaben (wegen der Gespenster).

Dann kümmerte ich mich um die Wendeltreppe, hatte ursprünglich vor, oben eine Fallklappe anzubringen, begnügte mich dann aber mit einer Gittertür unten vor dem Aufgang, die sich besser in das Gesamtkonzept einpaßte. Sagen wir, aus Stilgründen. Eine Zweckentfremdung übrigens, die ich für durchaus gerechtfertigt hielt, solange der Pastor fortdröhnte. Brachte noch zusätzliche kleine Zierbalkone an, auch aus Stilgründen, ohne Funktion allerdings. Ein paar zusätzliche gedrechselte Säulen, ein paar weitere Türmchen und Hütchen. Das Ganze war architektonisch sicherlich eine Katastrophe, aber ich war ja noch ein Kind, sagte ich mir. Immerhin hielt ich mich mit sämtlichen An- und Umbauten strikt an den beinernen Grundton — also Ton in Ton —, muß da frierend und, ja, mit einer gewissen Besorgnis neben meiner Mutter auf der Bank gesessen haben.

Um das alles zu bedenken.

Am Ende zog ich noch dicke nachtblaue Vorhänge ein, die zugezogen eine dicke nachtblaue Höhle ergeben würden, warm und traumhaft schön (wegen der Träume) und vollkommen abgesichert (wegen der Gespenster). So sah ich denn dem Wochenende mit Erwartung entgegen, Pfingsten, dem Tag, an dem ich einziehen würde.

*

Pfingsten.

Ein warmer Tag. Das Sonnenlicht fiel in breiten Bahnen in die Kirche, ich erinnere mich, meine Mutter hatte mich besonders hübsch angezogen und blickte milde, ja, vielleicht auch mit einem gewissen Stolz auf mich herab. Es war ein dunkelgrüner Anzug mit weißem Krägelchen. Und ich saß denn auch besonders still neben meiner Mutter, man versteht, ein stilles in sich gekehrtes Kind in der Kirche.

Den Herrn Pastor setzte ich kurzerhand raus, ich setzte ihn ganz nach vorn in die äußerste Ecke. Bei größeren Projekten gibt es immer Härtefälle für die eine oder andere Partei, das tat mir nun leid, schließlich setzte ich ihn ganz in das Nebenschiff, wo er dann fortdröhnen konnte. Ein Segen, meiner Ansicht nach, für die Gemeinde, die hauptsächlich aus alten Onkeln und Tanten bestand, obwohl diese — das würde mir nun auch leid tun — möglicherweise einem weiteren Härtefall entgegensahen.

Denn, als der Tag fortschritt, als es wärmer wurde in der Kirche, die Sonnenbahnen breiter, die Fenster flammender, als dieser Pfingstmorgen seine ganze Pracht entfaltete, hatte ich eine Vision. — Soeben war ich damit beschäftigt, noch einen kleinen Wintergarten anzubauen, eine kleine Glasveranda für den höheren Sonnenstand mit Blumentöpfen und Hängeranken, freischwebend vielleicht oder doch nur locker verankert. Als mich diese Vision überkam. Eine allumfassende, eine überirdische.

Eine radikale Lösung.

Mein Gott.

Ich flutete die Kirche.

Solch ein Wunder, nicht nur voller Brutalität, sondern auch Erotik! Ich ließ das Wasser steigen, während die Sonnenbahnen wanderten und die Fenster blaue und grüne Felder zeichneten, stieg es stetig. Erst fußhoch, dann kniehoch, schließlich bis zur Schulterhöhe eines ausgewachsenen Mannes. Scheitelhöhe? Ich füllte das ganze Kirchenschiff, auch die Seitenschiffe und das Nebenschiff, ich weiß nicht, wie ich mir das vorgestellt habe, theoretisch ließ ich die ganze Gemeinde ersaufen.

Nicht ohne allerdings noch ein paar Umbauten zu tätigen. Einen Landungssteg zum Beispiel, der von der Kanzel herunterführte. Ich selbst fuhr im Ruderboot über die blühende Wasserfläche, komplett mit Seelilien, Mangroven und Lotos, fuhr durch gotische Wälder, durch krausborstige sonnendurchglühte Kreuzgewölbe in die weite Lagune, wo mein Baumhaus stand.

Mein tropisches Baumhaus, bestückt mit lebenslangem Vorrat von Würstchen und Limonade.