Dieses Mal unter Todesangst.
Die Herrentoilette ist weiß gefliest und etwas streng im Geruch, obwohl das Fenster offen steht.
*
Ich weiß nicht, wer zuerst losballerte, noch will ich wissen, wieviel Tote, welchen Sachschaden und Verlust an Reputation hier zwei ehrenwerte Familien hinnehmen mußten. Sie mußten blind in der Gegend herumgeschossen haben. In derselben Sekunde jedenfalls, in der ich die Tür hinter mir schloss, brachen draußen alle Schleusen.
Pandämonium.
Ein einziger Knall.
Aus allen Rohren, allen halbautomatischen und automatischen Barettas und Wessons haben sie gefeuert, ein Schnellfeuer, das sich in der Sekunde zu einem einzigen riesigen Dauerknall verdichtete. Aus zehn, zwölf Rohren. Es müssen auch Maschinenwaffen dabeigewesen sein. Ob mein kleiner Freund da mitgeballert hatte oder gar die Rauchbombe betätigt, weiß ich nicht, zugetraut hätte ich es ihm.
Ich für meinen Teil weiß nur, daß ich mich in einem Gleitflug befand. Direkt von der Tür durchs Fenster, das jemand vorsorglich hatte offenstehen lassen. Das hochgelegene Fenster. Ich kann sagen, nie zuvor, nie im Leben bin ich so leichtfüßig gewesen, bin ich so glatt und hoch gehüpft. Direkt auf den vorsorglichen Müllcontainer, der dort bereitstand. Auf den ich hüpfen konnte.
Im einsamen Funzellicht des Hinterhofes. –
Das letzte Kapitel findet dann wieder in der Südsee statt.
30
Eines Tages, lange ist es her, hatte mich mein Vater beiseite genommen: Du wirst es nicht leicht haben, mein Sohn, hatte er gesagt, du wirst nicht wissen, wer deine Freunde sind, du wirst auf keiner Insel der Seligen leben. Eher umgekehrt. — Was immer er damit hatte zum Ausdruck bringen wollen.
Denn ich habe einen Freund. Einen, der mir folgt und mich verfolgt, der im gegebenen Moment eine Rauchbombe wirft, was will ich mehr. Und soweit es die Insel betrifft, sie heißt Kamehameha, auch Skull Island, auf der Karte St. Phyllis genannt und hat die Größe eines größeren Parkplatzes. Was nicht vielen Menschen beschieden ist. Du wirst feststellen, hatte er gesagt, daß ein Übermaß an Gütern gleichzeitig ein Übermaß an Beschränkung darstellt. Je mehr du hast, desto weniger kannst du noch kriegen.
Oder: Wenn du alles hast, kriegst du gar nichts.
Ja, aber da gibt es eine Taste, die er nicht gekannt hatte — eine Taste mit Namen «Erase».
*
Alle Jahre fährt ein Schiff vorbei. Es ist weiß, die Musik spielt, fröhliche Menschen sind an Bord. Ich winke mit aller Kraft, sie winken zurück — das Schiff zieht weiß vor der blauen Kimme seine Bahn, und ich werde aufs nächste Jahr warten.
Ich esse gut. Heute hat sie mir einen Königszapfen zubereitet, sie ist gut zu mir. Es ist ein weißer Sproß oben am Stamm der Sagopalme, der wie ein Langustenschwanz schmeckt, aber ohne Fischgeschmack. Dieser in einer zarten Honigkruste gebacken mit einer winzigen Schärfe im Biß, man könnte ohnmächtig werden. Dazu bereitet sie ein ganz ausgezeichnetes Ingwerbier aus der Ingwerwurzel, sie kann aber auch ein Eisbein auftauen und Erbspüree kochen. Und sicherlich kann sie viel Wasser tragen und viele Kinder gebären, da bin ich ganz sicher, ich weiß nur nicht genau, ob es nun eine ist, oder ob es zwei sind, die einander ablösen. Ich weiß es nicht. Aber sie ist gut zu mir.
Ich schlafe gut. Ich schlafe unter dem geflochtenen Dach auf einer Reisstrohmatte. Nachts schlägt die Lagune gleichmäßig an den Strand, Palmfächer rascheln in der ständigen lauen Luftbewegung, die die Seele ausfüllt, und ich kann nicht sagen, daß ich mich mit diesem Klischee unwohl fühle. Wässerchen murmeln, kußmäulige, dicke Fische geben Küßchen. Das Paradies. Auf der Reisstrohmatte schläft es sich ausgesprochen traumlos, ist das bekannt? Man legt sich hin und wacht auf, ohne irgendwann in gähnende Schlünde gefallen zu sein. Es gibt einen Vogel auf der Insel, ich glaube, es gibt nur einen, weiß-schwarz gestreift mit goldener Brust, der mich zwar mit Skepsis betrachtet, mich aber inzwischen als seinen Gast angenommen hat und immer sehr höflich umfliegt.
Aber ich möchte mich näher über meine Insel auslassen. Gebe hier einmal ihre genaue Position an, sie liegt also 5º südl. Breite und 142º westl. Länge, hoch in den Calmen, und ich habe da gar keine Bedenken, da man sie in dieser Position kaum finden wird, ich würde sagen, überhaupt nicht. Fernab jeglicher Schiffahrtsrouten, abseits aller Urlaubsgründe, höchstens daß sich einmal ein gelegentliches Kreuzfahrtschiff hierher verirrt. Von dem man mir dann zuwinkt.
Dieses kleine Eiland ist ohne Frage vulkanischen Ursprungs, nach seinem Erscheinungsbild, eine Feuermasse, die hier mitten im Ozean hochgedrückt wurde. Zu einem Gesteinsschaum erstarrt liegt es da wie ein gewaltiger Bimsstein, hart in der Brandung, aber weich und porös genug, um feine Treppenstufen zu schlagen. Was inzwischen ausgiebig geschehen ist.
Mein Eiland.
Um bei der Wahrheit zu bleiben, es macht nicht allzuviel her, mein Eiland, von außen betrachtet. Ringsum harter Klippenstrand, darüber die stachelige Felswand, wenig einladend. «Skull Island», weil es von der einen Seite her einem Totenkopf ähnelt. Dort, wo die Phantasie einen Jochbogen sieht, befindet sich eine Einbuchtung, einer riesigen Augenhöhle vergleichbar. Darüber die Stirn, hochgewölbt, steil in einen bleiernen Tropenhimmel hineinragend. Ein eher abschreckendes Bild, wenn ich ehrlich sein soll, und ich könnte mir gut vorstellen, wie der Seefahrer, der in der Tiefe des Ozeans endlich auf diesen Schädel stößt, in Depression verfällt und lieber nach der nächsten Insel sucht. Aber mir kann es nur recht sein. Denn gibt es eine Außenwelt, gibt es auch eine Innenwelt.
Würde man diese Stirn bezwingen können — nehmen wir an, es wäre möglich — würde man zerschrunden und mit dem Leben davongekommen die Höhe erreichen, geschähe ein tiefes Wunder, ein Wunder der Schöpfung nämlich: Tief unten wie das blaue Auge Gottes öffnet sich dahinter eine Lagune, so blau, so unendlich blau, daß dem Dichter — wie dem Seemann — das Herz stockt. Ich schäme mich nicht. Soviel Schönheit, soviel Licht. Dieses letzte Kapitel ist auch mein letztes Kapitel, und es ist mein letztes Haus, das ich hier baue.
Es gibt natürlich noch einen anderen Zugang, einen mit Klippenzähnen bewehrten Mund zum Meer. Die Insel hat Hufeisenform, öffnet sich knapp nach Westen, ist deshalb vor den Taifunen geschützt, die in diesen Breiten ihren Ursprung nehmen. Ziemlich geschützt, sollte man sagen, und hier berühre ich den wunden Punkt. Den wundesten. Alle diese Paradiese sind letztlich nicht bewohnbar und werden auch nicht bewohnt, man kann damit rechnen, daß sie innerhalb eines Jahrhunderts mindestens fünfmal radikal rasiert, von aller Vegetation befreit und überflutet werden. Soviel zu den Paradiesen. Und noch eine Anmerkung: Der verbliebene Rest ist von Sperrmüll besetzt. Wenn nicht von Schlimmerem.
Eigentlich hatte ich ja nie Robinson sein wollen, ich glaube, das habe ich genügend herausgearbeitet. Nicht der mit dem häßlichen Hut und den unförmigen Galoschen aus Baumrinde. Aber eines muß ich dem Mann lassen, er hatte es sich gemütlich gemacht.
Und wenn ich jetzt auf meiner Reisstrohmatte liegend mein allerletztes Haus baue, dann weiß ich, wofür es steht. Nicht für diese ganze Entwicklung der Menschheit, Steinzeit und ähnliches, nein, sich mit sich selbst einzurichten, dafür steht es. Darf ich einmal ganz konkret werden. Ich liege hier sehr gut, soeben hat sie mir (eine von den Dreien) einen wundervollen roten Fisch serviert, sie machen das sehr delikat, der Fisch steht hochkant und auf ihm reiten große, gekerbte Scheiben von Limonenorangen. Sehr delikat, eigentlich ist es nur eine Goldbrasse, aber sie heißt hier Mahi Mahi und das macht den Unterschied.
Es wird ein großes Haus werden. Mit vielen Korridoren und Treppen und Ein- und Ausgängen, je nachdem ob man hinein oder hinaus will, man ist ja nicht immer derselbe. Es geht hinauf und hinab, prächtig symmetrisch soll es werden und zugleich mächtig krumm und unübersichtlich, möglichst verbaut. Es soll genügend abgelegene Winkel haben, Scheintüren und Scheinwände, daß man nie ganz sicher sein kann, wo genau man sich befindet. Auch einen Warteraum für den Zahnarzt und ein kleines eingebautes Dampfbad, möglicherweise eine Saufkneipe im Eck, ich brauche unterschiedliche Schlafräume, je nach Gemütslage, mit und ohne Träume. Die wiederum hinter den Scheintüren ihren Platz haben, denke ich mir.