Der junge Mann blickt hoch.
Acht Uhr dreißig in der Bankhalle.
Ach, der Beerbohm, was will er denn.
Steht hier schon eine Weile und hat die gelbe Krawatte studiert, es sind immer acht Jockeys in der Reihe, zu zwanzig Reihen. In Kleinstädten steht man länger, geht langsamer, spricht Plattdeutsch, damit man nicht genau verstanden wird, als Hilfsmittel dient die Vorstellung eines grün gestrichenen Lattenzauns. Achttausend?
Beerbohm will achttausend.
Er blickt hoch. Schon sein Vater hat ihn gekannt, schon aus der Schule, und er kennt ihn auch. Drückt ein paar Knöpfe und blickt hinein, und drückt noch ein paar Knöpfe, und dann stutzt er. Wofür es aber keinerlei Grund gibt, habe ich doch das Konto erst kürzlich aufgefüllt.
Er stutzt.
Während ich kontemplativen Gedankengängen folge, die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Möglicherweise holt er jetzt noch den Direktor mit der silbernen Krücke, und das wäre nicht so gut, aber dann stutzt er nicht mehr, und zählt — was soll ich sagen — zählt mir Achttausend vor, immer zehn Scheine, in acht Reihen (ich hätte zwölftausend verlangen sollen). Die einen ziemlichen Packen ergeben.
Wahrscheinlich hat er mich verwechselt.
*
Als ich auf die Straße trat, hatte ich gleich dieses Gefühl. Lieber Freund, es ist ein Bestandteil meines Daseins. An sich hätte mich der Packen in der Tasche beruhigen sollen, das wäre richtig gewesen, stattdessen hatte ich dieses Gefühl im Nacken. Vielleicht sollte ich es nicht erwähnen. Ich ging die Otto-Grotewohl-Straße nach rechts hinunter, kehrte aber um und ging sie dann nach links hinunter.
Einmal waren sie sehr nahe gekommen, das heißt, eher ich ihnen als sie mir. Nicht in Grevesmühlen. In Hannover, in einer Warenhausetage, wo es irgendwelches kurioses Zeug gab. Ich hatte mir soeben einen japanischen Imkerhut aufgesetzt, konnte durch die Schleier kaum etwas erkennen, als sie hereinkamen. Obgleich sich das eher als glückliche Fügung erwies, als sie mich ebenfalls unter dem Schleier nicht erkennen konnten. Sie probierten dann Fuju-Sandalen aus, mit denen man mit diesen eigentümlichen Rundblöcken unter der Fußsohle läuft, und da muß mich wohl der Teufel geritten haben, denn ich ging sehr gemütlich hinter ihnen her, während die beiden durch die Gegend klonkten.
Ich erwähne das nur wegen der Unsinnigkeit, der Leichtfertigkeit, mit der man gelegentlich sein Leben aufs Spiel setzt — es sträubt sich noch heute mein Haaransatz, wenn ich daran denke. Schloß sogar so weit auf, daß ich dem einen hätte ins Ohr pusten können.
«Hier bin ich, ihr Brüder, hier, hier!»
Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht hatte.
Lieber Freund, der wahre Vorteil von Kleinstädten ist die Übersichtlichkeit. Man merkt, wenn jemand fehlt, aber man sieht auch sofort, wenn sich einer zuviel auf der Straße befindet.
Es ist die ungleiche Zahl, das dreieckige Gesicht unter runden. Ich ging noch ein Stück hinunter: Nein. Und dann sah ich mich nach allen Seiten um:
Nein.
6
Lieber Freund, meine Damen und Herren.
Dies ist der Ort, wo wir das Licht der Welt erblicken.
Du und ich, und alle miteinander.
Auf den weiten Ebenen der Festplatten, im Elektronendunst und den schwülen Dschungeln der Digitalanimatoren. Wo wir lieben und hassen, uns von Herzen gehen lassen, wo wir überhaupt erst existieren — insbesondere du, lieber Freund, der du dich ja weiterhin bedeckt hältst. Soweit es dein Vorhandensein betrifft. Übrigens, was heißt eigentlich virtuell (virtual)?
Ahhh, das heißt es eben nicht.
Es heißt, übersetzt, «beinahe, eigentlich, fast». Das heißt es.
*
Ich erinnere mich, es war an einem jener grauen Tage, als wir uns zum ersten Mal begegneten, ein Sonntag, in Grevesmühlen war es, wenn der Passantenstrom den Nullpunkt erreicht hat und die Einwohnerzahl insgesamt beim Schweinebraten sitzt. Ein kühler regnerischer Tag mit einem einzigen Fußgänger weit und breit.
Ich gehe die Otto-Grotewohl-Straße hinunter bis ganz zum Ende, und dann gehe ich wieder zurück. Es hätte ja sein können, daß auch eine Käthe — irgendeine Käthe — die Otto-Grotewohl-Straße hinabgeht. Der Geruch von Kohlenstaub. Die zugigen Straßenecken. Kein Zeitungsstand ist offen, soll ich die Depression noch vertiefen? Ein einsamer Hund? Ein klapperndes Straßenschild? Da erscheinen die drei goldgelb erleuchteten Vierecke gegenüber der Raiffeisenkasse doch als tröstliche Oase: «Bodos Internet-Café». Drinnen leicht überheizt, leicht parfümiert, das Publikum schweigt, sitzt an nicht mehr als sieben einzelnen Tischen auf einer erhöhten Stufe für einen Euro pro Stunde, während man unten an der Theke den ganz guten Kaffee bekommt. Jawohl, wenig Sahne und etwas Kakaopulver obenauf, habe ich das erwähnt? Publikum ruhig, in sich gekehrt, mit offenbar fremden Welten in Verbindung, vielleicht sind es aber bloß Rechnungen, die sie lesen. Der einzig Laute in diesem Lokal ist der Besitzer selbst, ein Exote, der für seinen eigenen Bedarf Musik auflegt, denn ich glaube nicht, daß hier irgend jemand etwas mit den stark verschleppten Rhythmen anfangen kann, die er auflegt.
Also gut, ich trete in den «Chat»-Raum ein.
14:20, 4. April, sonntags.
Ich erinnere mich, es war kein Ruhmesblatt. Als einzige Entschuldigung kann ich nur die Anonymität anführen, die Gesichtslosigkeit, ohne Gesicht wird der Mensch waghalsig und schämt sich nicht. Das heißt, heute schäme ich mich, wenn auch nicht sehr, ich schäme mich virtuell, fast oder beinahe. So wie es gelaufen ist. Trat also über das Freenet in das Forum ein und hätte nun auf der Startseite die freie Wahl gehabt:
Angeln
Briefmarken
Flirt
Hexenkessel
40er
Esoterik
Plauderecke
Rollenspiele
Buchklub
Friends 4 ever
Höllenpforte
– –
Ich öffne meine Maske — Nickname: Robinsonsuchtfreitag, Passwort: Fidschi, ich klicke kurz mein Profil an, zu sehen, ob es eingeloggt ist, es ist eingeloggt. Lieblingskleidung: Angelo Litrico, Lieblingsgetränk: Scotch, ich bin schlank, 186 cm, Haare braun, Augen blau, Typ: klassisch elegant, Gelegenheitsraucher (stimmt nicht), keine Kinder, positiv: phantasievoll, negativ: geizig (so, jetzt will niemand mit mir sprechen). Lieblingsessen: Wiener Würstchen, Lieblingsbeschäftigung: Salsa tanzen.
Ich betrete den R a u m, alle wissen jetzt, daß ich anwesend bin, es sind weiterhin anwesend: Engelchen, Ava 1975, Clyde X, Altmarkboy Milchschnitte, Picknicker, Weblost, Partytobias, Patrick-Gotha, 100%ige Böse. Ich sage: Hi, Böse. Sie antwortet nicht, ich verlasse den R a u m, alle wissen jetzt, daß ich den Raum verlassen habe.
Aber ich kann auch wieder eintreten.
Hallo!
Wer ist da (anklopfen)?
Wer bist denn du?
Keine Antwort.
Und wer bist du?
Ich bin neu hier.
Hallo Neuhier.
Das Thema ist, wie erwartet, ein schlüpfriges: Frühkindliche Sexualschäden mit allem Zubehör, Pinkeln, Einkoten, Eßsucht und Eßverweigerung, das Innere Kind und das Äußere Kind, Liebesverweigerung und als besonderes Anliegen der Milchschnitte: Geschlechterhaß.