Außerdem, was ist unglaubwürdig an einer «Sonderfahrt», die eine Pause (Pinkelpause) einlegt. Ort, Zeit und Gelegenheit, das Schicksalhafte und das Gewöhnliche sind hier eine Ehe eingegangen. Wobei ich zugebe, daß es selbst für Schweriner Verhältnisse zu einer ungewöhnlichen Ansammlung von Uniformen gekommen war.
8
Lieber Freitag!
Hier bin ich.
Wo bist du?
Fidschi.
Lieber Freitag, wir machen jetzt ein Experiment: Ich sage dir, wo. Und du sagst mir, wie.
Wie?
Ich sage, wo wir uns befinden (Fidschi Inseln, Viti Levu), und du sagst, wie es dort aussieht (gesehen 1826 von dem sich annähernden Dreimastschoner «Endeavor».)
Viti Levu?
Viti Levu?
Das ist leicht.
So?
Die Insel sieht aus wie ein schlafender Mann.
– –
Aus der Ferne.
– –
Wie ein Riese, auf dem Rücken liegend, Nase, dicker Bauch, und zwei Bergkegel als Fußspitzen, stimmt’s? — Das stimmte allerdings, gesehen 1906 von dem Postschiff «Flying Perth» bei Annäherung an Viti Levu. Das hätte er sich aber ebensogut aus dem Internet herunterladen können. — Ich übrigens auch.
Bist du Männchen oder Weibchen?
Das kannst du dir aussuchen.
*
In dieser Zeit waren wir sehr oft umgezogen, von einer Stadt in die andere, zuletzt nach Minden. Nicht Minden an der Aller, das andere Minden — ich war damals zehn Jahre alt — es hatte für meinen Vater eine Reihe beruflicher Fehlschläge gegeben, die uns, meiner Mutter und mir, damals noch verborgen blieben. Wir wohnten «Am Färbergraben» Nr. 10, hatten hinten im Hof ein eigenes kleines Flüßchen, einen langsamen dunklen Wasserlauf, wo gelegentlich ein altes Kinderbett oder eine Blechtonne vorbeizogen und wo ich an heißen Sommertagen bis zum Hals im Wasser stehen konnte — auf einer eisernen Leiter. Es gab sogar noch den eisernen Querträger mit Rollketten, an denen die Färber ihren Rupfen ins Wasser gelassen hatten, an denen ich hing und tiefgehendes Schiff spielte. Einen ozeantüchtigen niederländischen Teeclipper. Keine Schadstoffe damals, allenfalls weiße Blasen, die aber nach Seife rochen. Gelbe auch.
Mein Vater arbeitete in einer Bank im Zentrum, der «Westfälischen Kredit und Hypo», er war neu dort, ging jeden Morgen aus dem Haus und kehrte abends geduldig zurück. Ich will sagen, er machte noch nicht den gehetzten Eindruck, der uns Sorge bereitete. Wechselte dann zur kleineren «Mindener Sparkasse» über, ich glaube, so hieß sie. Oder «Mindener Volkssparkasse», hatte dort wohl einen Direktionsposten inne, ich erinnere mich vor allem an die blaue Markise an der Vorderfront, die nicht farbecht war.
Ich hatte als «Neuer» in der Schule keinen leichten Stand. Da war zunächst die Sprache, der schwer einfühlbare Dialekt dieser Gegend mit merkwürdigen ä- und ö-Lauten, die überall dort im Gestrüpp hingen, wo man sie nicht erwartete. Auch trugen sie in der Schule alle diese merkwürdigen Hosen, irgendwie breit geschnitten aus ganz grobem Drillich. Hosen wie die Stauer. Alle trugen sie, nur kaufen konnte man sie nicht, denn so kurz nach Kriegsende gab es nichts zu kaufen. Schließlich konnte ich meine Mutter von der Notwendigkeit überzeugen, mir eine solche Stauerhose aus einer alten Decke zu nähen, die dann auch entsprechend ausfiel, eher dazu beitrug, meine Stellung in der Klasse weiterhin zu schwächen.
Wat soll’n dat vorställen?
Von meiner Mutter war auch sonst wenig Beistand zu erwarten, sie füllte nur weiß und lymphatisch unsere zwei Wohnräume aus, wie eine Wolke, weiß und weich: Deine Klassenkameraden, ach ja, mit denen wirst du dich sicherlich gut verstehen.
Hast du denn schon einen Freund?
Nein.
Das war ein trauriges Kapitel, ich saß allein, ganz vorn Mitte, weil alle anderen Bänke besetzt waren. Und ich hatte auch gleich anfangs keine glückliche Hand, wenn ich zum Beispiel das exakte Gewicht des Erdballs oder die Jahreszahlen des ersten und auch des zweiten punischen Krieges freihändig hersagen konnte. Oder besonders unglücklich, wenn die Klasse hoffnungslos über einer fünfseitigen Pyramide brütete und ich, vortretend, eine solche freihand an die Tafel zeichnete. Jawohl, und ich diese, zur Tafel vortretend, freihand korrigierte, jawohl.
Wer war Savonarola?
– –
Wer war Savonarola?
Ich hob den Finger.
Mein Hintermann pflegte mich dann in den Rücken zu pieken, er benutzte dazu einen überlangen Bleistift, den er unter seiner Tischplatte in die Ritze meiner Rückenlehne steckte. Er piekte aber auch zwischendurch, gelegentlich, wie um mich daran zu erinnern, daß ich sowohl die punischen Kriege als auch das Gewicht des Erdballs besser vergessen sollte. Pieken — was sage ich, es waren Dolchstöße, die mein Herz trafen. Wie gern hätte ich ihn zum Freund gehabt. Er war sehr hübsch, Noswitz war sein Name, gebräunt und schlank war er, wohlmöglich Kind reicher Eltern. Ausgestattet mit einer ganz besonders großen und breiten Stauerhose.
Heul doch!
Ich heule ja gar nicht.
Heul doch!
Wenn ich mich nach einem Pieken schnell umdrehte, saß er da, aufrecht mit gespitztem Mund, den Blick zur Decke gerichtet. Noswitz. Und hinter ihm, Reihe auf Reihe, saßen sie, die Pohlmanns, die Görzen, die Kuhnerts, alle mit gespitztem Mund, alle gespannt, womit der Neue wohl jetzt wieder aufwarten würde: Geburtsdatum und Todestag Mozarts?
Doch, einen armen Jungen gab es, ein Häufchen, das in der äußersten Ecke saß und mir von dort aus zulächelte. Aber der wiederum war mir zu arm, der kleine Dämel, zu ärmlich mit seinen dünnen Ellenbogen und dem grasgrünen Pullover. Der Junge war ja schon froh, wenn niemand ihm sein Pausenbrot wegnahm (rohe Gurke wahrscheinlich). Das Jahr schritt voran und mit ihm alle gleichschenkligen und rechtwinkligen Dreiecke, alle Wallensteins Lager und Tode, während er mich mit seinen himmelblauen Augen aus seiner Ecke anflehte. Helfen konnten weder er mir noch ich ihm, grausam, ja, zeigt es doch wieder einmal, wie Kinder sind. Auch war sein grüner Pullover am Bündchen stark ausgebessert.
*
Es geschah am letzten Tag vor den großen Ferien.
Ich hatte längst gelernt, hinten herum über die Wiesen nach Hause zu gehen, um die massierte Gruppierung der Stauer vor der Schule zu vermeiden. Sie hingen dort regelmäßig nach Schulschluß herum, genauer gesagt, vor dem Lakritzenladen gegenüber. Sie taten mir ja nichts, im allgemeinen, aber es war wieder ein solcher Tag gewesen, an dem ich unglücklicherweise den genauen Lichtweg oder die Lichtwege konvexer und konkaver Linien gewußt hatte, was ja nicht unbedingt nötig gewesen wäre. Ging also besser hinten herum, bog soeben um die Mauerecke an der Ziegelei, immer noch relativ wachsam nach meinen Erfahrungen — — doch da stand das Komitee. Ich wurde bereits erwartet.
Da war der Pohlmann, der riesige Flegel, der Görtz — auch nicht viel netter —, die Brüder Mittag, Heiner und Jan, beide ziemlich das Übelste, was die Parallelklasse zu bieten hatte, und natürlich Schulte, Fasser, Bähr, die immer dabei waren. Alle großmächtig in Stauerhosen, von denen die meisten hätten von selbst stehen können. Noswitz war nicht dabei.
Ich sollte also in die «Kuhle» springen?
Genau das!
Die «Kuhle» war eine jenseits der Wiesen gelegene Sandgrube von beträchtlicher Tiefe — erst ging es die Wiesen hinan, dann kam ein steiler Abriß, im freien Fall glatte zehn Meter hinab von der Grasnarbe bis zum schräg auslaufenden Sandhang unten. Ein Hochgebirge. Ich hatte dort niemals jemanden springen sehen, aber angeblich sollte das ja eine Mutprobe sein.
Der man sich unterziehen mußte.
Für was?
Für die Stauer.
Ich sollte also — laßt mich das einmal zusammenfassen — zehn Meter im freien Fall in die «Kuhle» springen, um bei den Stauern (oho!) aufgenommen zu werden?
Schulte, Fasser, Bähr nickten sehr ernsthaft, und auch der Görtz. Pohlmann — soviel bemerkte ich — nickte nicht. Die Brüder Mittag blickten beiseite.