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4. Grundzüge der Kultur der Hohen römischen Kaiserzeit

Wer die Kultur der Hohen römischen Kaiserzeit, von Tiberius bis zu den Antoninen, verstehen und würdigen will, muß versuchen, die Maßstäbe in dieser Periode selbst zu finden. Es wäre nicht angemessen, die geistigen Leistungen dieser Zeit nach der überragenden Erscheinung Ciceros zu beurteilen, die ein neues Zeitalter der römischen Literatur eröffnet hat. Ebensowenig würde man der Kaiserzeit gerecht, wenn man das augusteische Zeitalter als Maßstab setzte, das mit seinen Leistungen auf dem Gebiet der Literatur, der Wissenschaft, der Kunst und Technik einen ganz unbestrittenen Höhepunkt des römischen Kulturschaffens darstellt. Diesem Zeitalter gegenüber muß natürlich alles Spätere mit Notwendigkeit als Abstieg oder geradezu als Verfall erscheinen. Dennoch hat das 1. Jh. n. Chr. zum mindesten  eine  überragende Gestalt des geistigen Lebens hervorgebracht. Es ist der Philosoph L.  Annaeus Seneca (geboren um Chr. Geb., gestorben 65 n. Chr.). Senecas Familie stammte aus Spanien (Corduba), sein Vater war der Rhetor Seneca. Seine wissenschaftliche Ausbildung hatte der junge Seneca in Rom erhalten. Nach einem Aufenthalt in Ägypten entschied er sich für die Beamtenlaufbahn, beginnend mit der Quästur. Mit Caligula geriet er in Konflikt, unter Claudius mußte er in die Verbannung gehen, und zwar auf Veranlassung der Messalina (41). Acht trostlose Jahre verbrachte er auf der Insel Korsika. Nach seiner Rückkehr nach Rom stieg er zur Prätur auf (49), Agrippina vertraute ihm sogar die Erziehung ihres Sohnes Nero an. Als dieser den Thron bestieg, waren Seneca und Burrus die eigentlichen Regenten des Reiches, doch gelang es dem Philosophen nicht, den jungen Kaiser auf die Dauer nach seinem Willen zu lenken. Nach dem Tode des Afranius Burrus (62) schied auch Seneca vom Kaiserhof, drei

Jahre später starb er als Opfer der pisonischen Verschwörung.

Es ist ein imponierendes literarisches Werk, das dieser Mann der Nachwelt hinterlassen hat. Neben Dichtungen, auch Tragödien, steht eine große Zahl von Prosaschriften. Von ihnen sind die zwölf Dialoge wohl die bedeutendsten. Dazu kommen noch die 20 Bücher der  Epistulae morales ad Lucilium. Charakteristisch für Seneca - wie überhaupt für seine Generation - ist die Hinwendung zur praktischen Philosophie: die Ethik ist alles, Logik und Dialektik interessieren nur noch wenig. Von der Philosophie erwarteten die Gebildeten jener Tage die entscheidenden Hinweise für das praktische Handeln. Seneca hat versucht, einem großen Publikum diese Direktiven durch seine Dialoge und Briefe einzuschärfen, und zwar mit einer nicht zu übertreffenden Stilkunst, in glänzender Anschaulichkeit und mit hinreißenden Pointen, für die man im römischen Schrifttum vergebens nach Parallelen suchen wird. Ein hervorragendes Beispiel ist die Schrift  <De brevitate vitae>. In ihr sagt Seneca unter anderem: «Muße  (otium)  genießen allein die, welche ihre Zeit der Weisheit widmen, nur sie leben wirklich. Denn nicht nur ihr eigenes Leben haben sie wohl in acht. Jede Zeit fügen sie der eigenen hinzu, alle vor ihnen verflossenen Jahre sind für sie hinzugewonnen. Wir müßten allerdings sehr undankbar sein, wollten wir nicht zugeben, daß die hochberühmten Gründer der Philosophie für uns geboren sind, daß sie unserem Leben den Weg gebahnt haben. Fremde Arbeit ist es, die uns aus der Finsternis zum Licht führt. Kein Zeitalter bleibt uns verschlossen, zu allen haben wir Zutritt, und sofern wir nur aus den Engen menschlicher Schwachheit heraustreten können, ist es eine gewaltige Zeit, durch die wir wandeln. Wir dürfen mit Sokrates disputieren, mit Karneades zweifeln, mit Epikur stille sein, wir können des Menschen Natur mit den Stoikern besiegen, mit den Kynikern sogar ihre Grenzen überschreiten... Die Familien der erhabensten Geister sind da: Wähl' aus, in welche du aufgenommen werden willst. Nicht allein ihr Name wird dir gegeben, sondern auch ihr Reichtum. Man braucht ihn nicht geizig zu behüten - er vermehrt sich, je mehr du von ihm verteilst. Die Philosophen werden dir den Weg zum Ewigen zeigen.»

Gleich Cicero war auch Seneca, obwohl den Stoikern nahestehend, ein Eklektiker. Neben stoischen Ideen finden sich bei ihm platonische, peripatetische, kynische Entlehnungen. Die Philosophie des Seneca dient der Antwort auf die Frage, wie der Mensch sein Leben glücklich gestalten könne. Die Antwort: nur derjenige vermag die Glückseligkeit zu erreichen, der sich von den äußeren Wechselfällen des Lebens unabhängig macht und den Schwerpunkt in sich selbst findet. Die innere Festigkeit wird freilich nicht ohne Kampf erworben, aber die Tugend ist mit Hilfe der Philosophie dem Verständigen erreichbar. In seinen Schriften hat Seneca zahlreiche Aussprüche hinterlassen, die als Zeugnisse reinster Humanität und als Ausdruck selbstloser Wohltätigkeit, sogar den Feinden und den Sklaven gegenüber, höchste Anerkennung verdienen. In mancher Hinsicht ist seine Gesinnung der christlichen Ethik verwandt, und nicht durch Zufall hat die spätere Zeit einen Briefwechsel zwischen Seneca und dem Apostel Paulus erfunden, den seinerzeit der Hl. Hieronymus für echt gehalten hat. Allerdings fehlen auch bei Seneca die Schattenseiten nicht. So hat sich der große Philosoph nicht nur zu ganz würdelosen Schmeicheleien gegenüber Claudius, Messalina und ihren Günstlingen herbeigelassen. Noch viel schlimmer ist seine Schmähschrift auf den Prinzeps Claudius, die  <Apocolocyntosis>.  Sie ist fast zu der gleichen Zeit erschienen, in der Senecas Schüler, der neue Prinzeps Nero, die von seinem Lehrer ihm aufgesetzte Lobrede auf den Verstorbenen hielt. Und wie vereinigt sich der mit Emphase immer wieder vorgetragene Lobpreis der Genügsamkeit mit der Tatsache, daß Seneca nicht nur ein schwerreicher Mann war, sondern daß er auch beim Erwerben seines Besitzes vor verwerflichen Mitteln nicht zurückgeschreckt ist? Diese allzu menschlichen Züge dürfen nicht fehlen, wenn man Senecas Persönlichkeit gerecht werden will. Er war ein Mensch, der sich redlich bemüht hat, das Rechte zu tun und das Schlechte zu bekämpfen, seiner eigenen Schwachheit war er sich dabei nur zu sehr bewußt. Sein überaus tapferes Verhalten vor seinem Tode, den er auf Neros Befehl gestorben ist, ist ein würdiger Abschluß eines reichen Lebens, dem Irrtum und Schwäche nicht fremd gewesen sind. «Das Leben ist ein Kriegsdienst»  (vivere militare est),  dieses Wort, das Seneca geprägt hat, gilt für ihn selber.

Der breiten Wirkung Senecas auf die Kreise der Gebildeten unter den Römern steht der Einfluß der kynischen Bettelphilosophen auf die unteren Schichten der Bevölkerung im Osten und im Westen des Reiches gegenüber. Diese Philosophen waren überall zu finden, sie haben auf die Ethik weitester Kreise einen tiefgehenden Einfluß ausgeübt. Einzigartig ist jedoch die Gestalt und die Wirkung des  Epiktet, eines aus Hierapolis in Phrygien stammenden ehemaligen Sklaven (etwa 50gegen 138). Sein Lehrer war der Stoiker Musonius Rufus, derselbe, den Nero in die Verbannung getrieben hat. Das gleiche Los traf Epiktet unter Domitian. Er begab sich von Rom nach Nikopolis bei Actium. Hier hat er bis an sein Lebensende eine tiefgreifende Wirksamkeit entfaltet. Auch der Kaiser Hadrian hat zu seinen Füßen gesessen, zu seinen engeren Schülern hat auch Arrian von Nikomedien, der Alexanderhistoriker, gehört, der sich für seinen eigenen Gebrauch die Reden des Epiktet aufgezeichnet hat. Gegen seine Absicht sind diese später in die Öffentlichkeit gekommen. Anders als Seneca war Epiktet dadurch ein Vorbild, daß sich sein Leben und seine Lehre in vollkommener Übereinstimmung befunden haben. Seine Schriften, das «Handbuch» (encheiridion)  und die Diatriben, durchweht eine tiefe Religiosität. Sein Leben ist getragen von einem unbedingten Vertrauen zur Gottheit, der sich der Mensch in allen Dingen zu unterwerfen hat. Was der Mensch auch erwirbt und besitzt, das muß er als Geschenk der Gottheit betrachten; er darf sich nic ht beklagen, wenn er es der Gottheit zurückgeben muß.