Die Rückwendung zur Religion ist in der Hohen Kaiserzeit eine allgemeine Erscheinung. In dem gleichen Maß, wie sich die Gestalten der alten römischitalischen und griechischen Götterwelt verflüchtigen, zeigt sich ein breiter Strom einer ganz persönlichen Frömmigkeit, der die Gebildeten und Ungebildeten in gleicher Weise in seinen Bann schlägt. Die Grabinschriften sind Zeugen dafür, daß man ein Wiedersehen nach dem Tode, dazu ein glückliches Leben im Elysium erhofft. Viele Tausende haben sich mit Inbrunst den vom Osten her vordringenden Geheimlehren der Isis, der Kybele (Magna Mater) und des Mithras verschrieben. Mysterien und Orakel erleben eine neue Blütezeit, wie etwa das Orakel von Klaros bei Kolophon, das Germanicus konsultiert hat. Seine Ausgrabung unter Louis Robert ist seit geraumer Zeit im Gange. Zahlreiche Kaiser haben sich in die eleusinischen Mysterien einweihen lassen. (Eine bemerkenswerte Ausnahme ist Nero.) Charakteristisch für den Volksglauben ist das Auftreten von zahlreichen Wundermännern. So hat der Scharlatan Alexander von Abonuteichos überall den größten Anklang gefunden (s. S. 257), und nicht anders steht es mit seinem Konkurrenten, Peregrinus Proteus, der sich in Olympia öffentlich verbrennen ließ. Der Glaube an ein Jenseits war ganz allgemein, daneben aber auch die Vorstellung von der Hölle und von Höllenstrafen für Bösewichter. Weit verbreitet war auch die Furcht vor den Dämonen, sie wird bezeugt durch die Fluchtafeln, zumeist aus Blei, mit ihren oft recht derben Verwünschungen. Auch der Glaube an Zeichen und Wunder war Gemeingut. Es war üblich, sich von den Astrologen (mathematici, Chaldaei) das Horoskop stellen zu lassen. Auch der Glaube an Träume war weit verbreitet. Dies zeigt das Traumbuch des Artemidor aus dem 2. Jh., in ihm sind alle erdenklichen, dem Verfasser bekannt gewordenen Träume aufgezeichnet. Der gefeierte Sophist Aelius
Aristides hat sich in seinen Schriften ausführlich über seine Träume ausgelassen, er erhielt im Traum Anweisungen über Diät und Lebensweise, die er pünktlich zu befolgen pflegte, da er um seine Gesundheit sehr besorgt war. Unter dem niederen Volk herrschte ein oft ganz abstruser Aberglaube; er wird bezeugt durch die Zauberpapyri aus Ägypten mit ihrem vielfach ganz unverständlichen Inhalt.
An der Seite des Volksglaubens existiert die offizielle Staatsreligion. Augustus hatte sich bemüht, sie mit neuem Leben zu erfüllen, seine Nachfolger haben diese Bestrebungen fortgesetzt. Zahlreiche Tempel sind neu errichtet, viele andere wiederhergestellt worden. Wie der Prinzeps das Amt des Pontifex Maximus bekleidet, so stellen sich nach seinem Vorbild die Mitglieder der Nobilität für die hohen Priesterämter zur Verfügung. Auch die etruskischen Riten sind eifrig gepflegt worden. Nicht durch Zufall hat der Kaiser Claudius ein voluminöses Werk über dieses Rätselvolk geschrieben. Zu den offiziellen Göttern des altrömischen Pantheons treten so manche neuen hinzu, zum Teil abstrakte Gottheiten wie die Annona und die Disciplina, die letztere unter Hadrian. Anders als die italischen und hellenischen Götter erfüllen die Göttergestalten des Orients das ganze Imperium mit ihrer Propaganda, sie haben eine große Macht über die Seelen der Römer und der anderen Einwohner des Westens gewonnen. Der Erfolg dieser Religionen liegt in der Stimmung der Zeit begründet: es ist die Sehnsucht nach Mystik und nach Offenbarung, diese Sehnsucht hat nun im Umgang mit den orientalischen Religionen ihr Genüge gefunden. Eine starke Ausstrahlung hatten die Religionen aus dem Orient auf die Frauen, dies gilt auch für die Lehren des Christentums. Unter Domitian sind vornehme Damen des kaiserlichen Hofes wegen ihrer Zugehörigkeit zu verbotenen Kulten (superstitiones) verbannt worden. Der Radius der Ausbreitung der orientalischen Religionen ist beträchtlich. Kultstätten der Isis finden sich nicht nur an vielen Orten Italiens, sondern auch im Norden, im römischen Germanien und sogar in England. Vor allem sind es die großen Hafenstädte, in denen sich die ägyptischen Gottheiten (Isis, Sarapis, Osiris, Anubis) niedergelassen haben. So haben auch die Isishymnen, Dokumente der Verehrung der Isis regina, eine geradezu weltweite Verbreitung gefunden. In ihnen wird Isis als die Göttin mit den unzähligen Namen (myriönymos) gepriesen, sie wird mit einer Vielzahl anderer Göttinnen gleichgesetzt. Insbesondere die Flavier hatten ein enges Verhältnis zu Isis. Als Domitian im Jahre 69 aus Rom fliehen mußte, da verkleidete er sich als Isispriester. Unter Hadrian zeigt sich eine gewisse Reaktion gegen die Überfremdung der römischen Religion durch die Götter des Orients, aber auch dieser Kaiser hat sich dem Einfluß des Ägyptischen nicht entziehen können. Dies zeigt zum Beispiel seine riesige Villenanlage in Tibur (Tivoli). Überhaupt ist Ägyptisch in der Kaiserzeit sehr in Mode. Im ganzen Reich finden sich die ägyptischen Uschebtis, kleine Figuren, die man in Ägypten den Toten mit ins Grab zu geben pflegte. Sie wurden in der Kaiserzeit durch Händler im ganzen Reich vertrieben. Auch Kleinasien hat zur Götterwelt des Imperiums Wesentliches beigesteuert. Während die Kybele (Magna Mater) schon seit 204 v. Chr. Heimatrecht in Rom besessen hat, wurde in der Kaiserzeit auch ihr Sohn Attis im Westen vielfach verehrt. Auf den Grabsteinen ist sein Bild das Symbol der Auferstehung. Zur Erinnerung an den Tod und an die Auferstehung des Attis pflegte man am 24. März ein großes Fest zu feiern.
Kleinasien entsandte außerdem den großen Wundertäter und Religionsstifter Apollonios von Tyana, dessen Taten, mit vielen legendären Zügen verquickt, Philostrat im 3. Jh. n. Chr. aufgezeichnet hat. Gelebt hat Apollonios im 1. Jh., er ist weit im römischen Reich herumgekommen, dabei hat er viele Wunder getan, vielleicht hat er auch die Gabe des zweiten Gesichts besessen. Was man in jener Zeit von den Wundermännern dachte, zeigt die Erzählung der Apostelgeschichte von der Heilung eines Kranken durch Paulus und Barnabas in Lystra in Lykaonien: die Einwohner der Stadt waren so begeistert, daß sie die beiden Apostel zu Göttern erheben wollten! Aus Kleinasien stammt auch der seltsame Religionsstifter Alexander von Abonuteichos. Der sehr geschäftstüchtige Mann hatte einen Schlangengott Glykon erfunden, der imstande war, Orakel zu geben. Zu den Gläubigen gehörten neben zahlreichen Griechen und Kleinasiaten auch so manche einflußreichen Römer. Weihungen an Glykon sind nicht nur in Makedonien (Skopje), sondern auch in dem fernen Dakien (Apulum) gefunden worden. Später als die ägyptischen und kleinasiatischen sind auch die syrischen Götter, Juppiter Dolichenus, die Dea Syria von Hierapolis und der Sonnengott von Emesa, nach dem Westen gewandert. Das gleiche gilt auch von dem persischen Mithras, der sich durch seine Lehre und seinen Kult vor allem den Soldaten empfohlen hat. Nicht durch Zufall finden sich in der späteren Kaiserzeit zahlreiche Kultstätten des Mithras an den Limites am Rhein und an der Donau. So existierten in Carnuntum nicht weniger als sieben Mithräen, in Aquincum deren fünf, auch in den Kastellen der Wetterau waren sie häufig. Doch ist über dem Siegeszug der orientalischen Gottheiten nicht zu übersehen, daß, wenn man von der Zahl ausgeht, die alten Religionen nach wie vor bei weitem das Feld beherrschen: in Italien sind es immer noch Hercules und Silvanus, die in den Weihungen dominieren, und in den Provinzen, wie z. B. im Rheinland, ist das Bild nicht anders.