Waverley
oder:
Vor sechzig Jahren war's
Original-Übertragung aus dem Englischen
von Erich Walter.
Waverley, or 'Tis Sixty Years Since.
Edinburgh 1814
Erster Teil.
Erstes Kapitel
Waverley-Würden. Ein Rückblick.
Wie gesagt, vor sechzig Jahren wars, da sagte Waverley, der Held unsrer Geschichte, seiner Familie Lebewohl, um sich zu dem Dragonerregiment zu begeben, bei dem er angeworben worden war. Es war ein trauriger Tag für Waverley-Würden, als der neubackne Offizier von seinem greisen, ihm herzlich zugetanen Onkel Sir Everard sich trennte, dessen Rang und Stammgut er einmal erben sollte. Zwischen unsers Helden Vater, dem jüngern Bruder des Baronets, Richard Waverley, und diesem hatten sich durch abweichende Ansichten über die politischen Strömungen im Lande Differenzen gebildet. Sir Everard hatte von seinen Ahnen all die Ideen und Vorurteile geerbt, die die Partei der Tory und der hochbischöflichen Kirche beherrschten, und das Haus und Geschlecht der Waverleys hatte seit dem großen Bürgerkriege sich als Tory wie als Anhänger der Hofkirche allzeit rühmlich hervorgetan. Der jüngere Bruder hingegen, mit dem ältern um zehn Jahre auseinander, lebte der Meinung, als dessen geborner Erbe vorderhand weder ein Amt noch ein Einkommen zu brauchen, aus dem Kampf ums Leben vielmehr weit bequemer und leichter als Sieger hervorzugehen, wenn er sich so wenig Lasten wie nur irgend möglich auf den Hals lüde. Geschichtsstudium und eigne Erfahrung hatten ihm den Beweis dafür geliefert, daß »Leiden in Geduld und ohne Widerstand«, wie es in einem alten Liede heißt, töricht und albern sei. Wahrscheinlich würde aber alle Vernunft kaum im stande gewesen sein, die ererbten Vorurteile zu beseitigen, hätte sich voraussehen lassen, daß Sir Everard, dessen Herz in den früheren Mannesjahren eine bittre Enttäuschung erfahren hatte, als Hagestolz sein siebzigstes Lebensjahr überschreiten werde. Dadurch gelangte er zu der Ueberzeugung, daß er im Leben bloß etwas werden könne, wenn er sich auf sich selbst verließe und mit der althergebrachten Liebe zu dem königlichen Hause der Stuarts und zur bischöflichen Hofkirche bräche, und so schloß er sich der Partei der Whig an, die der hannöverschen Thronfolge das Wort redete. Das Ministerium dieser Periode war klug darauf bedacht, die Oppositionspartei zu schwächen, und nahm den Sprößling eines so alten Geschlechtes mit Wärme auf, denn man durfte hoffen, durch ihn weitere Proselyten zu werben, und überhäufte ihn mit allerhand ministerieller Gunst, die zu tragen seine Fähigkeiten kaum ausreichten. Bald las nun Sir Everard, daß sein jüngerer Bruder, Richard Waverley, Esquire, Parlamentsmitglied geworden sei, und zwar für den ministeriellen Wahlort Barterfield, dann, daß Richard Waverley, Esquire, sich in den Verhandlungen über die Accisbill zu gunsten der Regierung und sehr zu seinem Vorteil hervorgetan habe, endlich, daß Richard Waverley, Esquire, Sitz und Stimme in einem der Kollegien erhalten habe, die sich des Vergnügens, dem Vaterlande Talente und Kräfte zu opfern, zusammen mit der unerquicklichen Vergünstigung all vierteljährlicher Einberufung erfreuen dürfen.
So schnell sich diese Nachrichten aufeinander folgten, so gelangten sie doch zufolge der damals nur wöchentlichen Erscheinung der Zeitungsberichte nur tropfenweis zu den Ohren Sir Everards, und das war für Richard Waverley einigermaßen von Vorteil. Denn wäre die Totalsumme von solch außerordentlichem Glück auf einmal nach Waverley-Würden gedrungen, so dürfte der neue Fürstendiener wohl kaum viel Ursache gefunden haben, sich zu seiner Schwenkung zu gratulieren. Denn wenn auch der Baronet der gutherzigste aller Menschen war, so war doch sein Gemüt nicht frei von empfindlichen Seiten, und dazu gehörte der Stolz auf die Traditionen seines alten Geschlechts in erster Reihe, und diesen Stolz hatte der Bruder durch seinen Uebertritt empfindlich verletzt. Das Haus Waverley war nicht durch Familiengesetz an bestimmte Erbfolge gebunden, und selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, so hätte eine späte Heirat des damaligen Geschlechtsherrn dem Kollateralerben einen bösen Streich spielen können. Mancherlei Gedanken dieser Art gingen Sir Everard durch den Kopf, ohne jedoch einen festen Entschluß, zu Richards Glück, zu reifen.
Er prüfte seinen Stammbaum, der auf den Wänden seines Ahnengelasses zwischen allerhand Emblemen und Darstellungen von Heldentaten seiner Vorgänger prangte. Die nächsten Deszendenten Sir Hildebrands waren, außer dessen ältestem Sohne Wilfried, dessen einzige Sprößlinge Sir Everard und Richard waren, die Waverleys von Highley Park, zumeist unter der Bezeichnung »Nants« bekannt, mit denen jedoch der eigentliche Stamm um einiger Verstöße halber seit Jahren allen Verkehr abgebrochen hatte. Immerhin waren dieselben im Gedächtnis Sir Everards durch die jüngsten Vorkommnisse so weit in den Hintergrund gedrängt worden, daß es, wäre Doktor Beutelschneider bloß um eine Stunde früher auf Waverley-Würden eingetroffen, wohl hätte passieren können, daß ihm der Auftrag, eine neue Aufteilung des Waverley-Erbes auszuarbeiten, zu teil wurde. Aber er hatte sich um diese Zeitspanne unterwegs verspätet, und sie hatte genügt, den Ingrimm, der Sir Everard erst veranlaßt hatte, den Rechtsanwalt durch einen expressen Boten zu beordern, verrauchen zu lassen. Dr. Beutelschneider fand seinen Klienten in tiefes Sinnen versunken und getraute sich nicht, dasselbe auf andre Weise zu unterbrechen, als daß er Papier und Schreibzeug aus seinem blauen Beutel langte und vor sich auf den Tisch stellte zum Zeichen, daß er zur Arbeit bereit und fertig sei. Aber gerade dieses bescheidne Verfahren brachte den Herrn von Waverley in Verdruß, denn er meinte darin einen leisen Vorwurf zu finden, daß er sich noch nicht recht schlüssig darüber sei, weshalb er seinen Rechtsanwalt inkommodiert habe. Und als er nun auf den Jünger der Themis blickte, noch halb unschlüssig, wie er sich verhalten solle, da drang plötzlich hinter einer Wolke die Sonne vor und warf einen buntfarbigen Strahl durch das gemalte Fenster des düstern Zimmers, in welchem sie saßen, und Sir Everards Auge fiel gerade, als er nach dem Fenster sah, durch das der bunte Strahl drang, auf das Wappenbild, in dessen Mittelpunkte, das die Devise enthielt, die sein Ahn in der Schlacht bei Hastings geführt haben sollte: drei Hermeline von Silber in azurnem Felde mit dem Spruche: Sans Tasche [fleckenlos] schritten.
»Mag er lieber untergehen, unser Name,« dachte da Sir Everard, »als daß dies alte, loyale Symbol durch das beschimpfte Wappen eines solchen Rundschädels von Puritaner, der unsern König Karl mit auf den Richtblock geführt hat, seines Glanzes entäußert werden sollte!«
Dies alles war die Wirkung eines flüchtigen Sonnenblicks, gerade hell genug, daß Doktor Beutelschneider sich ohne allzu viele Mühe seinen Gänsekiel spitzen konnte. Aber die Arbeit war müßig gewesen, denn es wurde dem Advokaten der Bescheid, sich wieder zu entfernen, aber sich auf den ersten Ruf bereit zu halten.
Die Anwesenheit des Doktors Beutelschneider im Schlosse mußte natürlicherweise die Folge nach sich ziehen, daß die gesamte Welt, die sich um Waverley-Würden drehte, die Köpfe zusammensteckte. Wer aber hier in diesem Mikrokosmus zu jenen Leuten gehörte, die das Gras wachsen hören und solcher Leute gab es natürlich auch hier die meinten für Richard Waverley aus diesem Vorgange, der so unmittelbar auf seine politische Wandlung folgte, noch weit Schlimmeres ahnen zu sollen ... und in der Tat erfolgte auch nichts Geringeres, als eine Reise des Baronets in seiner sechsspännigen Staatskutsche mit vier Lakeien in reicher Livre zu einem hochadligen Pair im Grafschaftsbezirke, der von fleckenloser Herkunft und ein unentwegt getreuer Anhänger der Torystischen Partei und glücklicher Vater von sechs unverheirateten Töchtern war.