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»Richard Middlemas ist und bleibt ein Narr, Marie«, sagte der Doktor. »Ich werde ihn sicherlich nicht vergessen, er braucht mir gar kein Andenken erst zu schicken. Nun, hebe du das Ding auf, liebe Marie, gut gemeint wird es schon sein.«

Daß das Petschaft sorgfältigst aufbewahrt wurde, braucht wohl nicht erst gesagt zu werde.

Neuntes Kapitel

Ihr Reiseziel war zunächst die Insel Wright. Nach ruhiger Überfahrt ging das Schiff bald vor dem Städtchen Ryde vor Anker. Der Kapitän wollte seinen Passagieren und vor allem seinem früheren Gespielen zu Ehren ein Festessen an Bord geben, ehe sie das Schiff verlassen würden. Er hatte ein Zelt und eine Tafel aufschlagen lassen, und Seekrebse, Pasteten von Fisch und andre Leckereien des Seelebens waren in einem Überfluß aufgetischt worden, der zu der Zahl derer, die sie verzehren sollten, in gar keinem Verhältnis stand. Danach gab es einen Punsch, der vortrefflich schmeckte, aber merkwürdig stark war.

Kapitän Hillary ließ die Gläser wacker kreisen und trank seinem Freunde wacker zu. Mit erhöhtem Glanz gab er seine Beschreibungen indischer Szenerien und indischer Abenteuer zum besten, und versicherte Middlemas von neuem, wenn er ihm auch nicht sofort eine Offiziersstelle verschaffen könne, so handle es sich doch nur um einen kurzen Aufschub, der eben nötig sei, damit er überhaupt erst mal kennen lernte, worauf es beim Militär ankäme.

Middlemas war durch den genossenen Punsch in zu große Begeisterung versetzt worden, als daß er im Anfange seiner Laufbahn irgendwelche Schwierigkeit erblickt hätte. Ob nun diejenigen, die an dem Gelage teilnahmen, ausgepichte Zecher waren, ob nun Middlemas mehr als die andern getrunken hatte, ober ob man ihm, wie er später argwöhnte, etwas Betäubendes beigebracht hatte – fest steht jedenfalls, daß er binnen kurzem schwer berauscht war und alle Stadien dieses achtbaren Zustandes rasch durcheilte: er lachte – er sang – er schrie – er tobte – er wurde zärtlich – und er verfiel schließlich in einen tiefen, todesähnlichen Schlaf.

Wie gewöhnlich zeigte die Wirkung des Rausches sich in hundert wirren wilden Träumen und Phantasien. Er sah sich in ausgedörrte Wüsten versetzt, von gräßlichen Schlangen umringt, deren Biß unerträglichen Durst erweckte – er sah indische Fakire am Marterpfahle leiden und fühlte sich selber in die Qualen der Hölle geschleudert.

Und als er schließlich erwachte, schien diese letzte Phase seines Traumes zur Wirklichkeit geworden zu sein. Die Laute, die zuerst sich in seine Träume vermischt und dann seinen Schlummer gestört hatten, hallten ihm jetzt in furchtbarer, vernichtender Deutlichkeit ins Ohr. Sie tönten aus langen Reihen von Strohbetten, die wie in einem Militär-Lazarett dicht aneinander standen. Eine verheerende Seuche schien der entsetzliche Dämon dieser grausigen Stätte zu sein.

Die Kranken lagen im Delirium, sie schrieen, kreischten und fluchten. Richard Middlemas war zugleich verwundert und entsetzt. Er hatte vor den Unglücklichen, mit denen er hier zusammen war, nur das eine voraus, daß er einen Strohsack für sich allein hatte, während die andern immer zu zweit auf einem lagen. Er konnte niemand sehen, der die Kranken gepflegt oder auf ihre Klagen gehört hätte. Er sah sich nach seinen Kleidern um, damit er aufstehen und sich aus dieser Höhle des Entsetzens retten könne, aber weder seine Kleider, noch seine Reisetasche oder seine Schiffskiste waren zu sehen. Es kam ihm die Furcht, daß er sie wohl nie wiedersehen würde.

Zu spät erinnerte er sich jetzt der Gerüchte, die über seinen Freund Hillary umgegangen waren – daß er von Herrn Lawford entlassen worden sei wegen einer Veruntreuung, die er sich in seinem Dienst habe zu schulden kommen lassen.

Wer aber hätte eine solche Schändlichkeit voraussehen können, daß er seinen Jugendfreund, der volles Vertrauen in ihn gesetzt hatte, in eine Falle hatte locken, seines Vermögens berauben und in dieses Pesthaus schaffen wollen, damit mit dem Tode seine Zunge für immer verstumme. Middlemas aber war entschlossen, alles zu seiner Rettung zu versuchen. Es mußte doch einmal ein Offizier oder ein Arzt hierher kommen, bei dem er Protest erheben konnte.

Neben diesen peinigenden Gedanken marterte ihn noch ein fürchterlicher Durst, den zu stillen ihm versagt war. Inzwischen versuchte er zu entdecken, ob sich nicht mit dem einen oder andern seiner Leidensgefährten ein Gespräch anknüpfen ließe, aus dem er Näheres über die Beschaffenheit dieses furchtbaren Ortes hätte erfahren können.

Auf dem Bette neben ihm lagen zwei Kerle, die zwar auf dem Wege der Genesung zu sein schienen, aber doch jedenfalls mit knapper Not dem Rachen des Todes entronnen waren. Ihre Beschäftigung bestand jetzt darin, sich im Kartenspiel um ein paar Hellerstücke zu bringen.

Neben diesen wiederum lagen zwei auf einer Lagerstätte, von denen nur noch einer am Leben war. Der andre Kranke war vor kurzem von seinen Leiden erlöst worden.

»Er ist tot, er ist tot«, rief der unglückliche Hinterbliebene.

»Na, dann krepier du auch und geh zur Hölle!« sagte einer der Spielenden, »dann macht ihr beide ein Paar, wie der Hanswurst sagt.«

»Er wird schon steif und kalt,« jammerte der andre. – »Es ist doch keine Sache, einen Toten mit einem Lebenden zusammenzubetten. Um Gotteswillen, befreit mich von diesem Leichnam!«

»Nicht wahr, damit es hinterher heißt, wir hätten ihm den Garaus gemacht? Er hatte ja auch noch zwei oder drei Silbermünzen bei sich.«

»Vor einer Stunde erst habt ihr ihm die letzte Münze aus der Hosentasche genommen, das werdet ihr wohl selber wissen,« erwiderte der Arme. »Aber helft mir den Leichnam aus dem Bett schaffen, dann sag' ich auch dem Aufseher nichts, daß ihr bei ihm lange Finger gemacht habt.«

»Was! Dem Aufseher willst du was sagen?« versetzte der Kartenspieler. »Noch ein Wort, und ich dreh dir das Genick um! Halt ja dein Maul und störe uns nicht im Spiel mit deinen Albernheiten, sonst mach ich dich so stumm wie deinen Bettgenossen.«

Der Unglückliche sank stöhnend zurück neben seinen schrecklichen Schlafkameraden, und das Kartenspiel nahm wieder unter Fluchen und abscheulichen Scherzen seinen Verlauf.

Aus diesem Beispiel der abgehärtetsten Gleichgültigkeit gegen das äußerste Elend gewann Richard Middlemas die Überzeugung, daß er von seiten seiner Leidensgefährten kaum auf Entgegenkommen rechnen durfte. Da verließ ihn jeglicher Mut. Gedanken an das glückliche und friedliche Heim, das er sein eigen hätte nennen können, traten vor seine fieberhaft erhitzte Phantasie mit einer Deutlichkeit und Lebendigkeit, die an Wahnsinn grenzte.

Plötzlich ließen sich Tritte im Raume hören, und die mancherlei Laute des Jammers, die ihn erfüllten, kamen alsobald zum Schweigen. Die Spielenden steckten die Karten weg und hörten auf zu fluchen. Andre Kranke, deren Gestöhn sich bis zur Raserei gesteigert hatte, verstummten jäh. Das Kreischen des Todeskampfes schwieg, das sinnlose Gebrüll des Wahnsinns brach ab, und sogar der Sterbende bemühte sich, sein Röcheln in Gegenwart des Kapitäns Seelencooper nicht laut werden zu lassen.

Dieser Beamte war der Oberaufseher des Lazaretts, ein vierschrötiger, krummbeiniger Mann mit einem Auge, das aber ebenso wild drein sah, wie es zwei wilde Augen nur immer vermögen. Er trug eine alte, verschossene Uniform, die gar nicht für ihn gemacht zu sein schien, in seinem Gürtel steckten ein Paar Pistolen und ein Hirschfänger, zwei Gehilfen, die Handschellen und Zwangsjacken trugen, folgten ihm.

Wenn Seelencooper revidieren kam, verstummte jedes Schmerzensgeschrei.

Der pfeifende Ton des Bambusrohres, das er in der Hand schwang, hatte die Gewalt eines Zauberstabes, Klagen und Beschwerden zum Schweigen zu bringen.

»Ich sage Euch, das Fleisch duftet wie ein Blumenstrauß, und das Brot ist noch viel zu gut für ein Pack von Faulenzern, die hier dem lieben Gott den Tag wegstehlen und der Gesellschaft die Lebensmittel wegfressen – von denen, die wirklich krank sind, rede ich hier nicht – denn ich bin immer für humane Behandlung.«