»Dann will ich fort, an seinem Throne Gerechtigkeit zu verlangen!«
»Gemach, gemach!« versetzte Esdale. »Vor allen Dingen überlegt Euch, was Ihr da wagt! Haidar ist gerecht, aus Klugheit und vielleicht aus Politik. Aber er ist von so heißblütigem Temperament wie irgend ein Farbiger, und wenn Ihr ihn vielleicht in der Laune antrefft, gerecht zu richten, so könnt Ihr ihn andrerseits auch in der Laune finden, ungerecht zu töten. Auf den Pfahl spießen und Erdrosseln ist bei ihm ein ebenso beliebter Sport, wie die Gerechtigkeit richtig abzuwägen.«
»Ganz einerlei, ich will auf der Stelle fort.«
»Kennt Ihr irgend jemand von den Höflingen Haidars?«
»Nur seinen geheimen Agenten, der vor kurzem hier war, Barak el Hadschi.«
»Der kann Euch unter Umständen ebenso viel nützen, wie wichtigere Personen. Die Sache ist eben die, man kann nie mit Bestimmtheit auf irgend etwas rechnen, wenn die Willkür eines Despoten im Spiele ist und auf sie eigentlich alles ankommt. Hört auf meinen Rat, lieber Hartley, überlaßt das arme Mädchen ihrem Schicksal. Wenn Ihr versucht, sie zu retten, so steht hundert gegen eins zu wetten, daß Ihr nur selber Euern Untergang dabei findet, ohne ihr irgendwie zu nützen.«
Hartley verabschiedete sich kopfschüttelnd von diesem guten Freunde, der sich in der Meinung entfernte, einem lieben Bekannten einen guten Rat erteilt und ihn dadurch vielleicht von einer großen Torheit abgelenkt zu haben.
Mit seiner Bemühung, die Abreise des Weibes ins Innere zu verhindern, kam er infolge unvorhergesehener Verzögerungen zu spät, und es blieb ihm nichts übrig, als der Montreville nachzureisen.
Er versah sich mit Geld, nahm drei zuverlässige eingeborene Diener, kaufte für sie und sich arabische Pferde und trat ohne Verzug die Reise nach Maisur an. Unterwegs wurde es ihm klar, daß ihm kein anderes Mittel mehr blieb, als geradeswegs nach dem Throne des Haidar Ali, des Vaters Tippu Sahibs, sich zu begeben und dessen Barmherzigkeit anzurufen. Er rief sich alle möglichen Geschichten ins Gedächtnis, die er von Haidar Alis Gerechtigkeit und Selbstbeherrschung je vernommen hatte, um zu der Zuversicht zu gelangen, daß der Rawwab sich willens zeigen werde, ein hilfloses Weib vor seinem eigenen Sohne zu schützen.
Auf seiner Reise, die mühselig genug war und unter beständigen Gefahren verlief, erfuhr er nur einmal, daß er auf der richtigen Spur sei.
An den Wällen eines Forts erhielt er von einem Posten die Auskunft, daß die Reisegesellschaft einer reichen Indierin vorübergekommen sei. Sie schienen es sehr eilig gehabt zu haben. Jenseits der Ghats habe sich eine Truppe der eigenen Soldaten der Indierin ihr angeschlossen, während die aus Madras mitgenommenen Führer und Begleiter hier entlohnt und zurückgeschickt worden seien. Die Begum beabsichtige bis nach Bangalur zu reisen, wo sie mit Tippu Sahib zusammentreffen wolle.
Auf Grund dieser Erkundigung hatte Hartley Aussicht, die Reise bis zur Residenz von Haidar Ali, Seringapatam, zurückzulegen, ehe noch die Montreville mit Tippu zusammentreffen konnte, da dieser erst in mehreren Tagen von einem Kriegszuge zurückerwartet wurde. Er konnte sich also dem Herrscher zu Füßen werfen, noch ehe das schändliche Werk vollbracht war.
Denn es war kein Zweifel, daß das Werk im besten Zuge war. Wie der Posten sagte, hatte in einer Sänfte eine Feringi – wie die Eingeborenen die Weißen nennen – gesessen, schön wie eine Houri, die als Geschenk für Tippu mitgenommen würde. Und der Begleiter der Begum, der die Kleidung seines Ranges getragen habe, sollte von dem Sohne des mohammedanischen Fürsten Haidar Ali mit einer hohen Würde belohnt werden.
Hartley reiste eigentlich aufs Geratewohl. Seine einzige Hoffnung stützte sich darauf, daß jener Fakir, den er einst in Madras von einer schweren Krankheit geheilt hatte, und in dem er einen der geheimen Unterhändler Haidar Alis erkannt hatte, sich in der Hauptstadt befand. Er hatte sich damals gerühmt, großen Einfluß an Haidars Hofe zu haben, und hatte zum Dank für die Heilung Hartley seinen Beistand zugesagt, wenn er sich je einmal in Seringapatam befinde. Vielleicht gelang es ihm, den Mann ausfindig zu machen und durch ihn sein Ziel zu erreichen.
Als die Reisenden unterwegs an einer Tränke Rast machten, bot sich Hartley ein Anblick, der ihn nötigte, sein eignes Unglück mit dem andrer zu vergleichen. Nicht weit von dem Bache saß ein Hindu, der sich im Zustande jammervollsten Elendes zu befinden schien. Er war am ganzen Leibe voller wirren Haares und hockte auf einem Tigerfelle. Sein Leib war mit Unrat und Asche bedeckt, seine Haut von der Sonne verbrannt, er trug nichts, als ein paar dürftige Lumpen.
Er schien die Fremden nicht zu bemerken, bewegte sich nicht und sprach kein Wort. Er heftete den Blick auf ein kleines rohes Grab, das aus Ziegelsteinen errichtet war. Neben ihm lag ein verrosteter Säbel und die Knochen und der Schädel eines Tigers.
Der Führer erzählte ihnen die tragische Geschichte dieses Indiers. Sadhu Sing war als Soldat in die Tochter eines Sepoys verliebt gewesen, er hatte sich eben mit ihr vermählt und wollte sie nach seinem Heime geleiten. Sie ritt auf einem Pferde, während ihr Sadhu Sing und seine Freunde stolz zu Fuß vorangingen. Als sie in die Nähe des Baches kamen, an welchem die Reisenden jetzt rasteten, vernahmen sie plötzlich ein lautes Gebrüll, dem ein Schrei des Entsetzens folgte. Als sie sich umwandten, war die Braut verschwunden, nur das lange Gras der Dschungel schlug noch Wellen, wie das Wasser, unter dem ein Hai dahinschießt.
Mit geschwungenem Säbel und wildem Gebrüll stürzte Sabhu dorthin, die andern warteten, starr vor Entsetzen. Ein kurzes Gebrüll des Todes weckte sie aus ihrer Erstarrung. Sie eilten in die Dschungel und fanden Sadhu. In den Armen hielt er den leblosen Leichnam seiner Braut, dicht dabei lag der Kadaver eines Tigers, entseelt durch einen Säbelhieb, wie ihn nur die Verzweiflung zu führen imstande ist.
Der Unglückliche grub ein Grab für seine Geliebte, errichtete ihr das rohe Denkmal, das die Reisenden sahen, und hatte seitdem diesen Platz nie mehr verlassen. Die wilden Tiere selber schienen seinen Schmerz zu achten oder ihn zu fürchten. Seine Freunde brachten ihm Speise und Trank. Nie hat er gelächelt oder ein Wort des Dankes gesprochen. Seitdem waren vier oder fünf Jahre verflossen, und der Mann sah aus wie ein Greis, obwohl er noch in der Blüte der Jugend stand.
Tief ergriffen von dem Liebesunglück dieses Indiers, setzte Hartley seine Reise fort. Nur zu sehr erinnerte ihn diese Geschichte an das wahrscheinliche Geschick seiner Geliebten, die sich fast schon in den Klauen eines noch furchtbareren Tigers befand, als das Untier gewesen war, dessen Gerippe neben Sadhu Sing lag.
Als Hartley in der Stadt angelangt, sich sofort nach der Moschee begab, fand er den Fakir Barak el Hadschi nicht, aber einer der vielen Hindu erklärte sich bereit, sein Anliegen an den heiligen Mann zu bestellen, und kehrte mit der Nachricht zurück:
»Wer sehen will, wie die Sonne aufgeht, muß bis zur Dämmerung warten.«
Er trug sich in seinem Ungestüm mit dem Gedanken, sich geradenwegs zu dem Fürsten selber zu begeben, aber auf seine Fragen erhielt er den Bescheid, daß Haidar Ali gar nicht in seiner Residenz weile, sondern eines geheimen Unternehmens wegen auf zwei Tage abwesend sei.
Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als daß er bis zum Abend wartete. Als er sich dann wieder nach der Moschee begab, wurde er von einem jungen Hindu erwartet, der seine Führung übernahm mit den Worten:
»Wer sehen will, wie die Sonne aufgeht, muß sich nach Osten wenden.«
Hartley war mit der Redeweise der Indier vertraut und folgte sofort seinem Führer, hinter dessen weißgekleideter Gestalt er im Finstern in banger Stimmung herschritt.
Nach vielverschlungenem Wege machten sie an einer kleinen Pforte Halt, und der Führer bedeutete dem Arzte, einzutreten, Hartley tat es ohne Zaudern und sah sich in einer kleinen Kammer dem Fakir Barak el Hadschi und einem anderen Fakir gegenüber, der in seinem langen weißen Barte einen sehr würdevollen Eindruck machte und eine Person von großer Heiligkeit zu sein schien.