Jedenfalls war Englisch die Lingua franca des Schiffs, und Maya hatte zuerst geglaubt, dass dies den Amerikanern einen Vorteil gäbe. Aber dann merkte sie, dass diese, wenn sie redeten, immer auf gleichem Fuß mit jedermann waren, während der Rest mehr private Sprachen hatte, zu denen sie umschalten konnten, wenn sie wollten.
Frank Chalmers war allerdings von diesem allen die Ausnahme. Er sprach fünf Sprachen, mehr als sonst jeder an Bord. Und er hatte auch keine Angst, sein Russisch zu benutzen, obwohl es sehr schlecht war. Er stieß einfach Fragen heraus und horchte auf die Antworten mit einer wirklich bohrenden Intensität und einem schnell und heftig ausbrechenden Lachen. Er war ein auf vielfache Weise ungewöhnlicher Amerikaner, dachte Maya. Zuerst schien er alle entsprechenden Merkmale zu haben. Er war groß, laut, von besessener Energie, vertrauensvoll und rastlos. Er war nach dem ersten Kaffee recht gesprächig und freundlich. Es dauerte eine Weile, bis man bemerkte, wie er diese Freundlichkeit ein- und ausschaltete, und zu erkennen, wie wenig sein Gespräch verriet. Zum Beispiel erfuhr Maya nie etwas über seine Vergangenheit, trotz entschiedener Bemühungen, ihn zum Reden zu bringen. Das machte sie neugierig. Er hatte schwarzes Haar, ein dunkel getöntes Gesicht, hellbraune Augen — hübsch im Sinne eines zähen Burschen. Sein Lächeln war kurz und sein Lachen scharf wie das von Mayas Mutter. Auch sein Blick war scharf, besonders, wenn er Maya ansah. Sie nahm an, dass er die andere Führungsperson abschätzte. Er verhielt sich ihr gegenüber, als bestünde ein Einvernehmen auf der Basis langer Bekanntschaft, eine Annahme, die sie verunsicherte aufgrund dessen, wie wenig sie in Antarctica miteinander gesprochen hatten. Sie pflegte sich Frauen als ihre Verbündeten vorzustellen und Männer als attraktive, aber gefährliche Probleme. Also war ein Mann, der ihr Verbündeter zu sein vorgab, desto problematischer. Und gefährlich. Und — noch etwas anderes.
Sie erinnerte sich nur an einen Moment, wo sie ihm bis unter die Haut hatte blicken können; und das war damals in Antarctica gewesen. Nachdem der thermische Ingenieur zusammengebrochen und nach Norden geschickt worden war und die Nachricht von seinem Ersatz eintraf; und als das bekannt gegeben wurde, war ein jeder höchst überrascht und aufgeregt zu hören, dass es John Boone selbst sein würde, obwohl dieser bestimmt auf seiner früheren Expedition mehr als die maximale Höchstdosis an Strahlung mitbekommen hatte. Während der abendliche Saal noch von der Nachricht brodelte, hatte Maya gesehen, wie Chalmers hereinkam und ihm das mitgeteilt wurde. Da hatte er den Kopf herumgeworfen, um seinen Informanten anzustarren. Dann hatte sie für einen Sekundenbruchteil gesehen, wie Wut aufblitzte, so kurz, dass es fast ein unterschwelliges Ereignis war.
Aber dadurch war sie auf ihn aufmerksam geworden. Und sicher bestand zwischen ihm und John eine seltsame Beziehung. Natürlich war das für Chalmers schwierig. Er war der offizielle Anführer der Amerikaner und hatte sogar den Titel ›Captain‹; aber Boone hatte mit seinem guten blonden Aussehen und der eigenartigen Präsenz seiner Perfektion sicher mehr Autorität. Er erschien als der wahre amerikanische Führer, und Frank Chalmers mehr wie ein übereifriger stellvertretender Offizier, der die unausgesprochenen Befehle Boones ausführte. Das konnte nicht angenehm sein.
Sie waren alte Freunde, hatte man Maya gesagt, als sie fragte. Aber sie selbst sah nur selten Anzeichen davon, auch wenn sie die beiden aufmerksam beobachtete. Sie sprachen selten in der Öffentlichkeit miteinander und schienen privat nicht zu verkehren. Also beobachtete sie die beiden, wenn sie nahe beisammen waren, desto genauer, ohne sich je ernsthaft zu fragen, weshalb. Die natürliche Logik der Situation schien das einfach zu verlangen. Wenn sie wieder bei Glavkosmos gewesen wären, hätte es strategisch Sinn ergeben, einen Keil zwischen sie zu treiben. Aber hier dachte sie nicht an so etwas. Es gab vieles, über das Maya nicht bewusst nachdachte.
Dennoch passte sie auf. Und eines Morgens brachte Janet Blyleven ihre Videobrille zum Frühstück in die Halle D mit. Sie war Chefreporterin für das amerikanische Fernsehen und wanderte oft durch das Schiff mit aufgesetzter Fernsehbrille. Sie schaute sich um und sprach den Kommentar. Sie sammelte Geschichten und schickte sie nach Hause, wo sie, wie Arkady sich ausdrückte, »vorverdaut und in die kindische öffentliche Meinung ausgekotzt« werden würden.
Natürlich gab es nichts Neues. Die Aufmerksamkeit der Medien war ein gewohnter Teil im Leben eines jeden Astronauten, und während des Auswahlprozesses waren sie mehr denn je aufs Korn genommen worden. Aber jetzt waren sie das Rohmaterial für Programme, die um Größenordnungen beliebter waren, als je zuvor ein Weltraumthema gewesen war. Millionen sahen sie als die ultimate Space Opera; und das war einigen von ihnen lästig. Als sich daher Janet am Ende des Tisches niederließ mit dieser modischen Brille, in deren Gestell Faseroptik steckte, ertönte einiges Stöhnen. Und am anderen Ende des Tisches diskutierten Ann Clayborne und Sax Russell, ohne irgendwie Notiz zu nehmen.
»Es wird Jahre dauern herauszufinden, was wir dort haben, Sax. Dekaden. Auf dem Mars gibt es so viel Landoberfläche wie auf der Erde, mit einer einzigartigen Geologie und Chemie. Das Land muss gründlich studiert werden, ehe wir damit anfangen können, es zu verändern.«
»Wir werden es schon durch die Landung verändern.« Russell wischte Anns Einwände fort, als wären es Spinnweben auf seinem Gesicht. »Die Entscheidung, zum Mars zu gehen, ist wie der erste Teil eines Satzes, und der ganze Satz lautet …«
»Veni, vidi, vici.«
Russell zuckte die Achseln. »Wenn du es so ausdrücken willst.«
»Du bist ein Würstchen, Sax«, sagte Ann und verzog ärgerlich den Mund. Sie war eine breitschultrige Frau mit wildem braunen Haar, eine Geologin mit strengen Ansichten und in der Diskussion schwierig. »Schau, der Mars ist eine Welt für sich. Du kannst deine das Klima verändernden Spielchen hinten auf der Erde treiben, wenn du willst. Die brauchen die Hilfe. Oder es auf der Venus versuchen. Aber du kannst nicht einfach die drei Milliarden Jahre alte Oberfläche eines Planeten auslöschen.«
Russell schob noch mehr Spinnweben weg und sagte einfach: »Er ist tot. Außerdem ist es eigentlich gar nicht unsere Entscheidung. Sie wird uns aus den Händen genommen werden.«
»Keine dieser Entscheidungen wird uns aus den Händen genommen werden«, warf Arkady scharf ein.
Janet sah von Sprecher zu Sprecher und nahm sie alle auf. Ann wurde allmählich erregt und hob die Stimme. Maya schaute sich um und sah, dass Frank die Situation nicht gefiel. Aber wenn er sich einmischte, würde er den Millionen die Tatsache verraten, dass er keine Diskussionen der Kolonisten vor ihnen wollte. Statt dessen blickte er über den Tisch und fing Boones Blick ein. Es gab zwischen beiden einen so raschen Austausch von Mienenspiel, dass Maya zwinkern musste.
Boone sagte: »Als ich dort war, hatte ich den Eindruck, dass er schon erdartig wäre.«
»Mit Ausnahme von zweihundert Kelvin Temperatur«, sagte Russell.
»Sicher, aber es sah aus wie die Mojave-Wüste oder die Dry Valleys. Das erste Mal, als ich mich auf dem Mars umschaute, merkte ich, dass ich mich nach jenen mumifizierten Flossenfüßlern umsah, die wir in den Dry Valleys gesehen hatten.«