Die meisten Gassen waren jetzt leer, da die Party oben in der Stadt lief. Ein paar Katzen schlichen zwischen den Häusern herum und erkundeten ihr neues Heim. Frank holte die Scheren aus der Tasche und kratzte in arabischer Schrift in einige Plastikfenster die Worte: Jude, Jude, Jude, Jude. Dann ging er weiter und pfiff durch die Zähne. Eck-Cafes waren kleine Höhlen voller Licht. Flaschen klapperten wie die Hämmer von Goldsuchern. Ein Araber saß auf einem breiten schwarzen Lautsprecher und spielte eine elektrische Gitarre.
Chalmers erreichte den zentralen Boulevard und ging ihn hinauf. Burschen im Geäst der Linden und Sykomoren brüllten sich Lieder in Schwyzerdütsch und Englisch zu. Eines lautete: »John Boone / Went to the Moon / No fast cars / He went to Mars!« Kleine Musikergruppen quetschten sich durch die immer dichtere Menge. Einige Männer mit Schnurrbärten, kostümiert wie amerikanische Cheerleader, zappelten geschickt in einem komplizierten Cancan. Kinder schlugen auf kleine Plastiktrommeln. Es war laut. Da das Zeltdach den Ton absorbierte, konnte man unter den Kuppeln keine Echos hören; aber laut war es trotzdem.
Weiter oben, wo sich der Boulevard in den Sykomorenpark öffnete, war John persönlich, inmitten einer kleinen Volksmenge. Er sah Chalmers herankommen, erkannte ihn trotz der Maske und winkte ihm zu. So gut kannten die Ersten Hundert einander …
»He, Frank«, sagte er. »Du scheinst dich gut zu amüsieren.«
»Allerdings«, sagte Frank durch seine Maske. »Ich liebe Städte wie diese, du nicht auch? Eine Herde gemischter Arten. Sie zeigt einem, was für eine vielfältige Sammlung von Kulturen der Mars ist.«
John lächelte leicht. Sein Blick glitt über den Boulevard unten.
Frank sagte in scharfem Ton: »So ein Ort ist in deinem Plan ein Hindernis, nicht wahr?«
Boone wandte ihm wieder den Blick zu. Die Menge ringsum zerstreute sich. Sie spürte, dass der Wortwechsel einen scharfen Charakter annahm. Boone sagte zu Frank: »Ich habe keinen Plan.«
»Oha! Was ist mit deiner Rede?«
Boone zuckte die Achseln. »Die hat Maya geschrieben.«
Eine doppelte Lüge, und John glaubte nicht, dass Maya sie verfasst hatte. Selbst nach all diesen Jahren war es fast so, als spräche er zu einem Fremden. Zu einem Politiker im Einsatz. »Mach schon, John«, zischte Frank. »Du glaubst all dies und weißt das.
Aber was wirst du mit all diesen unterschiedlichen Nationalitäten machen? All dem ethnischen Hass, dem religiösen Fanatismus? Deine Koalition kann all das schwerlich unterdrücken. Du kannst den Mars nicht für dich behalten, John. Er ist keine Forschungsstation mehr, und du wirst keinen Vertrag kriegen, der ihn wieder zu einer macht.«
»Das versuchen wir auch gar nicht.«
»Warum hast du dich dann bemüht, mich aus den Gesprächen herauszuhalten?«
»Das tat ich nicht!« John machte ein gekränktes Gesicht. »Entspann dich, Frank! Wir werden es zusammen ausfechten, wie wir es immer getan haben. Nur Ruhe!«
Frank starrte seinen alten Freund verwirrt an. Was sollte er glauben? Er hatte nie gewusst, was er von John halten sollte — die Art, wie er Frank als Sprungbrett benutzt hatte, die Art, wie er so freundlich war … Hatten sie nicht als Verbündete, als Freunde begonnen?
Es fiel ihm auf, dass John sich nach Maya umsah. »Wo ist sie denn?«
Es war Jahre her, dass sie imstande gewesen waren, über Maya zu sprechen. Boone warf ihm einen scharfen Blick zu, als ob er sagen wollte, dass ihn das nichts angehe. Als ob alles von Bedeutung, das Boone im Laufe der Jahre geworden war, Frank gar nichts anginge.
Frank ging wortlos weiter.
Der Himmel war inzwischen tief violett und gestreift von gelben Cirruswolken. Frank kam an zwei Gestalten vorbei, die keramische Dominos trugen, die alten Figuren von Komödie und Tragödie, mit Handschellen aneinander gefesselt. Die Straßen der Stadt waren dunkel geworden. Fenster, in denen Parties stattfanden, leuchteten grell. In jeder verschwommenen Maske blitzten große Augen auf der Suche nach der Quelle der in der Luft liegenden Spannung. Unter dem wie Ebbe und Flut brausenden Geräusch der Menge war ein dumpfer stürmischer Ton zu hören.
Er hätte nicht überrascht sein sollen. Er kannte John so gut, wie man überhaupt einen anderen Menschen kennen konnte, aber es hatte ihn nie betroffen. Hinein zwischen die Bäume des Parks, unter die handgroßen Blätter der Sykomoren. Wann war das je anders gewesen? Diese ganze gemeinsame Zeit, jene Jahre der Freundschaft. Und nichts hatte eine Rolle gespielt. Diplomatie mit anderen Mitteln.
Er schaute auf die Uhr. Fast elf. Er hatte sich mit Selim verabredet. Wieder eine Verabredung. Viele, in Viertelstunden unterteilte Tage seines Lebens hatten ihn daran gewöhnt, von einem Termin zum nächsten zu rennen, die Masken zu wechseln, mit einer Krise nach der anderen fertig zu werden, zu managen und zu manipulieren und in nie endender hektischer Eile Geschäfte abzuwickeln. Und heute war ein Feiertag: Mardi gras, Fastnacht! Und er machte es immer noch so. Er konnte sich an gar kein anderes Verhalten erinnern.
Er kam zu einem Bauplatz, einem Magnesiumgerüst, umgeben von Haufen aus Backsteinen, Sand und Pflastersteinen. Es war eine Nachlässigkeit von den Leuten, so etwas herumliegen zu lassen. Er stopfte sich die Jackentaschen voll mit Steinen, soviel sie fassen konnten. Als er sich aufrichtete, bemerkte er, dass ihn jemand von der anderen Straßenseite aus beobachtete — ein kleiner Mann mit schmalem Gesicht unter struppigen schwarzen Zotteln, der ihn scharf musterte. In seinem Blick lag etwas Beunruhigendes. Es war, als ob der Fremde alle seine Masken durchschaute und ihn so fixierte, als kenne er seine Gedanken und Absichten.
Chalmers war entsetzt und zog sich rasch in den Randstreifen des Parks zurück. Als er sicher war, dass er den Mann abgedrängt hatte und ihn sonst niemand beobachtete, fing er an, so heftig er konnte, Steine in die untere Stadt zu schleudern. Und auch einen für jenen Fremden, genau ins Gesicht! Über ihm war das Zeltgerüst nur als ein schwaches Muster verdeckter Sterne zu erkennen. Es sah so aus, als stünden sie frei im kühlen nächtlichen Wind. Die Luftzirkulation war in dieser Nacht natürlich stark. Zerbrochenes Glas, Rufe. Ein Schrei. Es war wirklich laut. Leute wurden rasend. Ein letzter Stein, gezielt auf ein großes, erleuchtetes Fenster jenseits des Grases. Er traf nicht und schlüpfte unter die Bäume.
Nahe der Südmauer sah er jemanden unter einer Sykomore — Selim, der nervös herumging. Frank schwitzte, rief aber ruhig: »Selim!« Er langte in seine Brusttasche und fischte vorsichtig drei Pflaster aus dem Beutel. Synergie konnte so mächtig sein, im Guten oder im Bösen. Er trat vor und nahm den jungen Araber kräftig in den Arm. Die Pflaster trafen und durchtränkten Selims leichtes Baumwollhemd. Frank trat zurück.
Jetzt hatte Selim etwa sechs Stunden. Er fragte: »Hast du mit Boone gesprochen?«
»Ich habe es versucht«, erwiderte Chalmers. »Er hat nicht zugehört. Er hat mich belogen.« Es war so leicht, Betrübnis zu heucheln. »Fünfundzwanzig Jahre der Freundschaft, und er hat mich belogen!« Er schlug mit der Hand auf einen Baumstamm; die Pflaster lösten sich ab und flogen weg ins Dunkle. Er nahm sich zusammen. »Seine Koalition wird empfehlen, dass alle Siedlungen auf dem Mars in den Ländern entstehen, die den ersten Vertrag unterzeichnet haben.« Das war möglich und sogar recht plausibel.
»Er hasst uns!« schrie Selim.
»Er hasst alles, was ihm in die Quere kommt. Und er hat erkannt, dass der Islam im Leben der Völker noch eine echte Macht darstellt. Er formt die Denkweise der Menschen. Das kann Boone nicht ausstehen.«
Selim erschauerte. Im Dunkeln leuchtete das Weiß seiner Augen hell. »Man muss ihm Einhalt gebieten!«