Frank wandte sich zur Seite und lehnte sich an einen Baumstamm. »Ich … weiß nicht.«
»Du hast es selbst gesagt. Reden nützt nichts.«
Frank umkreiste den Baum. Er fühlte sich benommen. Du Narr, dachte er. Reden bedeutet alles. Wir sind nichts als Informationsaustausch. Reden ist alles, was wir haben!
Er kam wieder zu Selim und sagte: »Wie?«
»Der Planet. Das ist unser Weg.«
»Die Stadttore sind heute Nacht verschlossen.«
Er hielt inne. Seine Hände verkrampften sich.
Frank fuhr fort: »Aber das Tor zur Farm ist noch offen.«
»Aber die äußeren Tore der Farm werden versperrt sein.«
Frank zuckte die Achseln und ließ ihn sich das ausmalen.
Selim zwinkerte und sagte: »Ah!« Dann war er verschwunden.
Frank saß zwischen Bäumen auf dem Boden. Der war ein sandiger feuchter Schmutz, das Ergebnis intensiver Ingenieurtätigkeit. In der Stadt war nichts natürlich — nichts.
Nach einiger Zeit stand er auf und ging durch den Park. Er schaute sich die Leute an. Vor der Oper stießen maskierte Personen aufeinander, rauften und kämpften, umgeben von Zuschauern, die Blut witterten. Frank ging wieder zu dem Bauplatz, um noch mehr Steine zu holen. Er warf sie; und einige Leute sahen es. Er musste laufen. Wieder zwischen die Bäume, in die kleine Wildnis unter dem Zeltdach, um Raubtieren zu entkommen — durch Adrenalin aufgeputscht, die stärkste aller Drogen. Er lachte wild.
Plötzlich erblickte er Maya, die allein bei der improvisierten Plattform am Scheitelpunkt stand. Sie trug einen weißen Domino. Die Proportionen der Figur, das Haar und die Haltung waren unmissverständlich Maya Toitovna. Die Ersten Hundert, die kleine Bande — sie waren für ihn die einzigen, die immer noch am Leben waren. Der Rest waren Gespenster. Frank eilte über unebenem Boden zu ihr. Er umklammerte einen tief in einer Jackentasche vergrabenen Stein und dachte: Komm nur, du Biest! Sag etwas, um ihn zu retten! Sag etwas, das mich veranlasst, durch die ganze Stadt zu laufen, um ihn zu retten!
Sie hörte ihn kommen und wandte sich um. Auf dem Domino phosphoreszierten metallisch blaue Ziermünzen. Ihre Augen waren nicht zu erkennen unter der Maske.
»Hallo, Frank!« sagte sie, als ob er keine Maske trüge. Er machte beinahe kehrt, um wegzulaufen. Schon das Wieder erkennen genügte fast, ihn dazu zu veranlassen …
Aber er blieb doch stehen und sagte: »Hallo, Maya! Es war doch ein hübscher Sonnenuntergang, nicht wahr?«
»Eindrucksvoll. Die Natur hat keinen Geschmack. Es war bloß eine städtische Einweihungsfeier, sah aber aus wie der Tag des Jüngsten Gerichts.«
Sie standen unter einer Straßenlaterne über ihren Schatten. Sie sagte: »Hast du dich amüsiert?«
»Sehr. Und du?«
»Es wird mir ein bisschen zu wild.«
»Das kann man doch verstehen, meinst du nicht auch? Maya, wir sind aus unsern Löchern heraus und schließlich auf der Oberfläche! Und was für einer Oberfläche! Man bekommt solche Fernblicke nur auf Tharsis.«
»Es ist eine gute Platzwahl«, räumte sie ein.
»Es wird eine große Stadt werden«, prophezeite Frank. »Aber wo wohnst du derzeit, Maya?«
»In Underhill, Frank, wie immer. Das weißt du doch.«
»Aber du bist doch nie dort. Ich habe dich seit einem Jahr oder länger nicht mehr gesehen.«
»Ist das so lange her? Nun, ich bin in Hellas gewesen. Das hast du sicher gehört.«
»Wer würde mir das sagen?«
Sie schüttelte den Kopf, die blauen Ziermünzen glitzerten. »Frank.« Sie wandte sich zur Seite, als ob sie den Konsequenzen der Frage ausweichen wollte.
Ärgerlich ging Frank um sie herum und trat ihr in den Weg. »Damals auf der Ares.« Seine Stimme klang gepresst, und er drehte den Hals, um die Kehle frei zu machen und leichter sprechen zu können. »Was ist passiert, Maya? Was geschah damals?«
Sie zuckte die Achseln und vermied es, ihn anzusehen. Längere Zeit sagte sie nichts. Dann blickte sie ihm ins Gesicht und sagte: »Der Sporn des Moments.«
Und dann läutete es Mitternacht, und sie befanden sich im Zeitschlupf des Mars, jener Lücke von neununddreißigeinhalb Minuten zwischen 24.00.00 und 00.00.01 Uhr, wenn alle Uhren aussetzten oder stillstanden. So hatten es die Ersten Hundert beschlossen, um den ein wenig längeren Tag des Mars an die Vierundzwanzigstundenzählung anzupassen. Diese Lösung hatte sich erstaunlicherweise als befriedigend erwiesen. Jede Nacht eine Weile aus den zuckenden Zahlen ausscheren, aus dem erbarmungslosen Lauf des Sekundenzeigers …
Und als in dieser Nacht die Uhren Mitternacht schlugen, wurde die ganze Stadt verrückt. Fast vierzig Minuten außerhalb der Zeit. Das musste der Höhepunkt der Feier werden, das war jedem instinktiv klar.
Feuerwerke knatterten los, Leute brüllten Freudenrufe, Sirenen schnitten durch den Lärm, und das Jubelgeschrei verdoppelte sich. Frank und Maya sahen sich das Feuerwerk an und lauschten dem Krach.
Dann gab es ein etwas anderes Geräusch: Verzweifelte Schreie, wütendes Geheul. »Was ist das?« fragte Maya.
»Ein Kampf«, antwortete Frank und lauschte. »Vielleicht hat sich etwas getan im Sporn des Moments.« Sie starrte ihn an, und er fügte rasch hinzu: »Vielleicht sollten wir gehen, um einen Blick darauf zu werfen.«
Das Geschrei wurde stärker. Irgendwo herrschte Aufruhr. Sie gingen durch den Park hinunter. Ihre Schritte wurden länger, bis sie den leichten Hüpfschritt des Mars angenommen hatten. Der Park schien für Frank größer zu sein, und er war einen Augenblick lang besorgt.
Der zentrale Boulevard war voller Gerümpel. Leute rannten in Gruppen plündernd durch die Finsternis. Eine nervenzerreißende Sirene ging los — der Alarm, der ein Leck im Zelt anzeigte. In beiden Richtungen des Boulevards splitterten Fenster. Auf dem Rasen lag ein Mann reglos auf dem Rücken. Das Gras um ihn herum war mit dunklen Streifen verschmiert.
Chalmers packte den Arm einer Frau, die sich über ihn gebeugt hatte, und brüllte: »Was ist geschehen?«
Sie weinte. »Sie haben gekämpft. Sie kämpfen noch.«
»Wer? Schweizer, Araber?«
»Fremde«, sagte sie. »Ausländer.« Sie sah Frank blind an. »Holen Sie Hilfe!«
Frank ging wieder zu Maya, die mit einer Gruppe bei einer weiteren reglosen Gestalt sprach. »Was, zum Teufel, passiert hier?« fragte er sie, während sie zum Krankenhaus der Stadt eilten.
»Es ist ein Aufstand. Ich weiß nicht, weshalb.« Ihr Mund war ein gerader Strich in einer Haut, so weiß wie der Domino, der immer noch ihre Augen verhüllte.
Frank riss seine Maske herunter und warf sie weg. Die Straße war voller Glasscherben. Ein Mann rannte auf sie zu. »Frank! Maya!«
Es war Sax Russell. Frank hatte den kleinen Mann noch nie so erregt gesehen. »Es ist John — man hat ihn angegriffen!«
»Was?« riefen sie gleichzeitig.
»Er versuchte, einen Streit zu schlichten, und drei oder vier Männer haben ihn angesprungen. Sie haben ihn niedergeschlagen und weggeschleppt.«
Maya schrie: »Ihr habt sie nicht aufgehalten?«
»Wir haben es versucht. Einige von uns sind ihnen nachgejagt. Aber in der Medina haben wir sie verloren.«
Maya blickte Frank an.
Der rief: »Was geht hier vor sich? Wohin würde ihn jemand bringen?«
»Zu den Toren«, sagte sie.
»Die sind nachts aber doch verschlossen.«
»Vielleicht nicht für jeden.«
Sie folgten ihr in die Medina. Straßenlampen waren zerbrochen; unter den Füßen knirschte Glas. Sie fanden einen Feuerwehrhauptmann und gingen zum Türkischen Tor. Er schloss es auf. Einige von ihnen eilten hindurch und legten in Windeseile Außenkleidung an. Dann hinaus in die Nacht, die von dem Bathysphärenschimmer der Stadt erhellt war, um sich umzuschauen. Frank schmerzten die Gelenke von der nächtlichen Kälte, und er konnte genau fühlen, wo seine Lungenflügel saßen, als ob man zwei Eiskugeln in seine Brust gestopft hätte, um den rapiden Herzschlag abzukühlen.