»Komm schon, Harry, laß sie rein«, bat Susan.
»Du hast leicht reden - es waren ja nicht deine Pantoffeln.«
»Du hättest Tucker lieber mitnehmen sollen. Sie findet mehr Hinweise als alle anderen.« Susan warf einen Blick auf die wachsame Mrs. Murphy, die auf Harrys Sessel hockte »Mrs. Murphy natürlich auch.«
Harry besann sich auf ihre Pflichten als Gastgeberin »Hat jemand Hunger?«
»Nein.« Blair schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht«, erklärte Susan. »Sie Ärmster.« Sie deutete auf Blair. »Sie ziehen hierher, um Frieden und Ruhe zu finden, und alles dreht sich um einen Mord.«
Die Muskeln in Blairs hübschem Gesicht strafften sich.
»Der menschlichen Natur kann man nicht entfliehen Erinnern Sie sich an die Männer von der Bounty, die auf der Insel Pitcairn ausgesetzt wurden?«
»Ich erinnere mich an den wunderbaren Film mit Charles Laughton als Captain Bligh«, sagte Susan.
»Im wirklichen Leben haben sich die Engländer, die damals im Paradies strandeten, bald ihre eigene Variante der Hölle geschaffen. Das Übel war in ihnen. Die Eingeborenen - es waren hauptsächlich Frauen, weil die Weißen die Männer getötet hatten - schlitzten den Engländern mitten in der Nacht, als sie schliefen, die Kehlen auf. Das glauben jedenfalls die Historiker. Kein Mensch weiß, wie die Meuterer wirklich starben, man weiß nur, daß Jahre später, als ein europäisches Schiff vorbeikam, die>zivilisierten< Männer verschwunden waren.«
»Wollen Sie damit andeuten, daß Crozet eine kleinere Ausgabe von Manhattan ist?« Harry beugte sich vor und stocherte mit dem Kaminbesteck aus Messing, das sie von ihren Eltern geerbt hatte, im Feuer.
»Big Marilyn als Brooke Astor.« Dann fügte Susan hinzu. »Astor ist wirklich eine große Dame. Mim tut nur so.«
»Alles in allem geht es in Crozet friedlicher zu als in Manhattan, aber unsere Fehler zeigen sich, wo immer wir auch sein mögen - in kleinerem Maßstab. Leidenschaften sind Leidenschaften, egal, in welchem Jahrhundert und an welchem Ort.« Blair starrte ins Feuer.
»Stimmt.« Harry kuschelte sich wieder in ihren Sessel. »Hat Little Marilyn nicht gesagt, sie hätte das Gesicht wiedererkannt?« Bei der Erinnerung an den Kopf wurde Harry schlecht.
»Ein Landstreicher, den sie an den Gleisen entlanggehen sah, als sie im Postamt war.« Blair fügte hinzu. »Ich kann mich auch dunkel an ihn erinnern. Er hatte alte Jeans an und eine Baseballjacke. Ich hab nicht weiter auf ihn geachtet. Haben Sie ihn gesehen?«
Harry nickte. »Die METS-Jacke ist mir aufgefallen. Das ist aber auch schon alles. Na ja, auch wenn die Leichenteile zu dem Kerl gehören, wissen wir immer noch nicht, wer er ist.«
»Ein Student an der Uni von Virginia?«
»Gott, Susan, das will ich nicht hoffen.« Harry gestattete Mrs. Murphy, sich auf ihrem Schoß niederzulassen.
»Zu alt.« Blair faltete die Hände.
»Ist ein bißchen schwer zu schätzen.« Auch Susan hatte den grausigen Anblick vor Augen.
»Meine Damen, ich denke, ich geh nach Hause. Ich bin fix und fertig, und es ist mir peinlich, daß ich in Ohnmacht gefallen bin. Die Sache hat mich ziemlich mitgenommen.«
Harry begleitete ihn zur Tür und sagte ihm gute Nacht. Als sie zu Susan zurückkam, hatte Mrs. Murphy den Sessel mit Beschlag belegt. Sie hob die protestierende Katze hoch und setzte sich wieder hin.
»Blair war heute abend reserviert«, bemerkte Susan. »Muß ein schöner Schock für ihn gewesen sein. Er hat kein einziges Möbelstück im Haus, er kennt keinen von uns, und dann werden auf seinem Grund und Boden Leichenteile gefunden. Und jetzt das. Aus der Traum vom idyllischen Landleben.«
»Das einzig Gute heute abend war der Anblick, wie Boom Boom ohnmächtig wurde.«
»Du bist gemein«, sagte Susan lachend.
»Du mußt zugeben, es war komisch.«
»Ein bißchen. Fair hatte das Vergnügen, sie wiederzubeleben, in ihrer voluminösen Handtasche nach Beruhigungspillen zu wühlen und sie dann nach Hause zu bringen. Wenn sie zu zickig wird, könnte er ihr eine Ace-Spritze verpassen.«
Der Gedanke, daß Boom Boom mit einem Pferde-Tranquilizer ruhiggestellt würde, amüsierte Susan. »Ich würde sagen, Boom Boom ist nicht leicht zu halten«, sagte sie. Dieser Pferdeausdruck war durchaus angemessen, denn Boom Boom war alles andere als leicht zu halten.
»Wir müssen jetzt wohl über irgendwas lachen. Die ganze Sache ist so makaber, was bleibt uns sonst übrig?« Harry kraulte Mrs. Murphy hinter den Ohren.
»Ich weiß nicht.«
»Hast du Angst?«
»Und du?«
»Ich hab dich zuerst gefragt.«
»Nicht um mich«, antwortete Susan.
»Ich auch nicht, weil ich nicht glaube, daß der Mord was mit mir zu tun hat, aber wenn ich nun hineingezogen werde? Der Mörder hätte die Teile ja auch auf meinem Friedhof vergraben können.«
»Ich glaube, uns passiert nichts, wenn wir ihm nicht im Weg sind«, sagte Susan. »Aber was heißt>im Weg<? Und warum das alles?« Mrs. Murphy schlug ein Auge auf und sagte:»Liebe oder Geld.«
23
Der Sonntag dämmerte eisig, aber klar herauf. Die Temperatur würde vielleicht auf zehn Grad klettern, aber kaum darüber. Harry liebte die Sonntage. Sie konnte von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ohne Unterbrechung arbeiten.
Für heute hatte sie sich vorgenommen, die Pferdeboxen auszumisten, Kalk aufzubringen und dann die Seiten mit Holzspänen aufzuschütten. Körperliche Arbeit hielt ihren Geist wach. In der Scheune schob sie eine Entspannungskassette in die Stereoanlage und machte sich daran, die Schubkarre zu beladen. Der Düngerstreuer hatte seinen Standplatz unterhalb einer kleinen Erdaufschüttung. So konnte Harry die Schubkarre auf die Aufschüttung schieben und den Inhalt in den Streuwagen kippen. Sie und ihr Vater hatten die Rampe Ende der sechziger Jahre gebaut. Harry war damals zwölf gewesen. Sie hatte so hart und so eifrig gearbeitet, daß ihr Vater ihr zur Belohnung eine maßgeschneiderte Cowboyüberhose kaufte. Die Rampe hatte all die Jahre überstanden, und die Erinnerung an die Hose hatte ebensolange gehalten. Harrys Eltern waren beide der Meinung gewesen, daß müßige Hände Teufelswerk verrichteten. Getreu ihrer Erziehung konnte Harry nicht stillsitzen. Am glücklichsten war sie, wenn sie arbeitete, und mit Arbeit kurierte sie fast alle Krankheiten. Nach der Scheidung hatte sie oft nicht schlafen können und manchmal sechzehn bis achtzehn Stunden am Tag gearbeitet. Der Farm war dieser Eifer anzusehen. Harry auch. Ihr Gewicht sank auf fünfzig Kilo, zuwenig für eine Frau von fast eins siebzig. Am Ende hatten Susan und Mrs. Hogendobber sie mit einem Trick zum Arzt gelotst. Hayden Mclntire, der vorgewarnt war, hatte die Tür zu seinem Sprechzimmer fest zugemacht, als sie Harry hineinbugsierten. Eine BJ2-Injektion und eine gehörige Standpauke überzeugten sie, daß es besser für sie sei, mehr zu essen. Hayden verschrieb ihr außerdem ein leichtes Beruhigungsmittel, damit sie schlafen konnte. Sie nahm es eine Woche lang, dann warf sie es weg. Harry haßte Medikamente jeder Art, aber ihr Körper nahm Schlaf und Nahrung wieder auf, Haydens Kur hatte also ihren Zweck erfüllt, so oder so.
Der Kreislauf der Jahreszeiten, der sich wiederholende Rhythmus von Pflanzen, Jäten, Ernten und winterlichen Reparaturen machte es Harry jedes Jahr bewußt, daß das Leben einmal zu Ende gehen würde. Vielleicht nicht das Leben an sich, wohl aber ihr eigenes. Es gab einen Anfang, eine Mitte und einen Schluß. Sie war noch nicht ganz in der Mitte, aber es gab schmerzliche Hinweise, daß sie nicht mehr fünfzehn war. Verletzungen brauchten länger, bis sie heilten. Erfreulicherweise verfügte sie über mehr Energie als in ihrer Teenagerzeit; was sich aber am meisten verändert hatte, war ihr Verstand. Sie war gerade lange genug auf der Welt, um Ereignisse und Menschen einer zweiten und dritten Betrachtung zu unterziehen. Sie ließ sich nicht leicht beeindrucken oder zum Narren halten. Auch aus diesem Grund fand sie die meisten Filme sterbenslangweilig Sie hatte Varianten der Handlung meist schon zuvor gesehen. Die Filme fesselten eine neue Generation von Fünfzehnjährigen, aber Harry konnte nichts damit anfangen. Was sie fesselte, waren gut geleistete Arbeit, Lachen mit Freunden, ein stiller Ritt auf einem Pferd. Sie hatte sich nach der Scheidung aus dem Wirbel des gesellschaftlichen Lebens zurückgezogen - kein großer Verzicht, aber sie mußte erschüttert feststellen, wie wenig eine alleinstehende Frau galt. Ein alleinstehender Mann war ein Gewinn, eine alleinstehende Frau eine Last. Weil die verheirateten Frauen sie fürchteten, vermutete Susan.