Auf der anderen Seite des Schalters stand der bestaussehende Mann, den Mrs. Hogendobber seit Clark Gable gesichtet hatte. Susan und Harry hätten vielleicht ein jüngeres Männlichkeitsidol erkoren, aber welchen Jahrgang man auch zum Vergleich heranzog, dieser Typ war phänomenal. Sanfte, haselnußbraune Augen erstrahlten in einem markanten Gesicht, das rauh war und doch empfindsam, und sein lockiges braunes Haar war perfekt geschnitten. Seine Hände waren kräftig. Ja, er vermittelte insgesamt einen Eindruck von Kraft und Stärke. Über gutsitzenden Jeans trug er einen wassermelonengrünen Pullover, aus dessen hochgeschobenen Ärmeln sonnengebräunte, muskulöse Unterarme hervorsahen.
Einen Moment lang sagte niemand ein Wort. Aber schnell durchbrach Miranda die Stille. »Miranda Hogendobber.« Sie streckte die Hand aus.
»Blair Bainbridge. Aber bitte, nennen Sie mich Blair.«
Miranda hatte jetzt Oberwasser und konnte die anderen vorstellen. »Das ist unsere Posthalterin Mary Minor Haristeen. Susan Tucker, Ehefrau von Ned Tucker, einem sehr guten Anwalt, falls Sie mal einen brauchen sollten, und Market Shiflett, dem der Laden nebenan gehört, was sehr bequem ist und wo es die sündhaften Dove-Riegel gibt.«
»Hey, hey, und was ist mit uns?« tönte es im Chor von unten.
Harry hob Mrs. Murphy hoch. »Das ist Mrs. Murphy, das ist Tee Tucker, und das graue Kätzchen ist Pewter, Markets unschätzbare Gehilfin, obwohl sie oft hier drüben ist und die Post abholt.«
Blair lächelte und schüttelte Mrs. Murphy die Pfote, worüber Harry entzückt war. Mrs. Murphy hatte nichts dagegen. Dann bückte sich der Traum von einem Mann und tätschelte Pewter den Kopf. Tucker hielt ihm die Pfote hin, und Blair schüttelte sie.
»Sehr erfreut, dich kennenzulernen.«
»Ganz meinerseits«, erwiderte Tucker.
»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte Harry, während die anderen sich erwartungsvoll vorbeugten.
»Ja. Ich hätte gern ein Postfach, wenn eins frei ist.«
»Ich hab einige. Möchten Sie lieber eine gerade Zahl oder eine ungerade?« Harry lächelte. Sie konnte bezaubernd sein, wenn sie lächelte. Sie gehörte zu den Frauen, die hübsch waren, ohne daß sie viel dafür tun mußten. Man bekam, was man sah.
»Gerade.«
»Wie wär's mit vierundvierzig? Oder mit dreizehn - ich hätte fast vergessen, daß die Dreizehn noch frei ist.«
»Nehmen Sie bloß nicht die Dreizehn.« Miranda schüttelte den Kopf. »Bringt Unglück.«
»Dann vierundvierzig.«
»Vierunddreißig fünfundneunzig bitte.« Harry füllte den Postfachschein aus und stempelte ihn mit dunkelroter Farbe.
Blair händigte ihr einen Scheck aus und sie ihm den Schlüssel.
»Gibt es auch eine Mrs. Bainbridge?« fragte Mrs. Hogendobber unverblümt. »Der Name kommt mir so bekannt vor.«
Market verdrehte die Augen gen Himmel.
»Nein, ich hatte noch nicht das Glück, die richtige Frau zu finden, mit der...«
»Harry ist ledig, müssen Sie wissen. Geschieden, besser gesagt.« Mrs. Hogendobber nickte zu Harry hinüber.
In diesem Augenblick hätten ihr Harry und Susan am liebsten die Kehle aufgeschlitzt.
»Mrs. Hogendobber, Mr. Bainbridge muß bei seinem ersten Besuch im Postamt wirklich nicht gleich meinen ganzen Lebenslauf zu hören bekommen.«
»Bei meinem nächsten Besuch werden Sie ihn mir vielleicht selbst erzählen.« Er schob den Schlüssel in die Tasche, lächelte und ging. Er stieg in einen kohlschwarzen Ford F 350 KombiTransporter. Mr. Bainbridge schien einiges darin abschleppen zu wollen.
»Miranda, wie konnten Sie?« rief Susan aus.
»Wie konnte ich was?«
»Das wissen Sie ganz genau«, nahm Market den Faden auf.
Miranda, nach einer Pause: »Sie meinen, daß ich Harrys Familienstand erwähnt habe? Hören Sie, ich bin älter als Sie alle. Der erste Eindruck ist entscheidend. Von mir mag er vielleicht nicht den besten ersten Eindruck haben, aber ich wette, er hat einen guten von Harry, die die Situation mit dem ihr eigenen Takt und Humor gemeistert hat. Und wenn er heute abend nach Hause kommt, weiß er, daß es in Crozet eine hübsche unverheiratete Frau gibt.« Mit dieser erstaunlichen Feststellung fegte sie zum Hintereingang hinaus.
»Ich will verdammt sein.« Markets Kinn sackte hinunter.
»Du nimmst mir das Wort aus dem Mund«, kicherte Pewter.
»Mädels, ich geh wieder an die Arbeit. Das war einfach zuviel für mich.« Lachend öffnete Market die Eingangstür. Er blieb stehen. »Los, komm, du kleiner Gauner.«
Pewter miaute freundlich und folgte ihrem Vater zur Tür hinaus.
»Hättest du gedacht, daß Miranda so schnell rennen kann?« sagte Tucker zu Mrs. Murphy.
»Das war wirklich eine Überraschung.« Mrs. Murphy wälzte sich auf dem Boden und zeigte ihren hübschen lederbraunen Unterbauch.
»Das wird ein Herbst voller Überraschungen. Ich spür's in den Knochen. « Tucker grinste und wedelte mit ihrem Stummelschwanz.
Mrs. Murphy warf ihr einen Blick zu. Die Katze war nicht in der Stimmung für Prophezeiungen. Katzen verstanden von diesen Dingen ohnehin mehr als Hunde. Sie hatte keine Lust einzugestehen, daß sie Tucker recht gab. Es lag was in der Luft. Aber was?
Harry legte den Scheck in die Schublade unter dem Schalter. Die beschriebene Seite lag oben, und Harry schaute sich ihn noch einmal an. »Yellow Mountain Farm.«
»Es gibt keine Yellow Mountain Farm.« Susan beugte sich vor, um den Scheck zu begutachten.
»Foxden.«
»Was? Die steht seit über einem Jahr leer. Wer würde so was kaufen?«
»Ein Yankee.« Harry schloß die Tür. »Oder jemand aus Kalifornien.«
»Nein.« Susan ließ die Stimme sinken.
»Um den Yellow Mountain steht außer Foxden weit und breit nichts zum Verkauf.«
»Aber Harry, wir wissen doch normalerweise alles, und darüber, daß Foxden verkauft ist, haben wir kein Wort, keinen mucksigen Pieps gehört.«
Noch während Susan sprach, griff Harry zum Telefon und wählte. »Jane Fogleman bitte.« Es folgte eine kurze Pause. »Jane, warum hast du mir nicht gesagt, daß Foxden verkauft ist?«
Am anderen Ende der Leitung erwiderte Jane: »Weil wir Anweisung hatten, den Mund zu halten, bis der Kauf perfekt war, und das ging heute morgen bei McGuire, Woods, Battle und Boothe über die Bühne.«
»Ich kann's nicht fassen, daß du es vor uns geheimgehalten hast. Susan und ich haben ihn gerade kennengelernt.«
»Mr. Bainbridge wünschte es so.« Jane hielt einen Moment die Luft an. »Ist dir je so ein Mann begegnet? Ich kann dir sagen, Mädchen.«
Harry gab sich uninteressiert. »Sieht nicht schlecht aus.« »Nicht schlecht? Sterben könnte man für den!« explodierte Jane.
»Hoffen wir, daß das niemand tun muß«, bemerkte Harry trocken. »So, du hast mir gesagt, was ich wissen wollte. Gruß von Susan, und wir werden dir nicht so schnell verzeihen.«
»Alles klar«, lachte Jane und hängte ein.
»Foxden.« Harry legte den Hörer auf die Gabel.
»Herrgott, was hatten wir Spaß auf der alten Farm. Der kleine Stall mit den sechs Pferdeboxen und der Schnickschnack am Haus und, ach, der Friedhof nicht zu vergessen. Erinnerst du dich an den einzigen wirklich alten Grabstein mit dem kleinen Engel, der Harfe spielte?«
»Ja. Die MacGregors waren so liebe Leute.«
»Und sie haben ewig gelebt. Keine Kinder. Wahrscheinlich haben sie uns deswegen erlaubt, überall rumzurennen.« Susan hatte fast das Gefühl, als sei die alte Elizabeth MacGregor im Raum anwesend. Ein komisches Gefühl, irrational, aber angenehm, denn Elizabeth und ihr Mann Mackie waren das Salz der Erde gewesen.