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»Durch einen Schlag auf den Kopf«, klärte Ned Tucker sie auf. »Larry Johnson hat die Autopsie vorgenommen, und ich habe ihn anschließend getroffen. Herbie, ich glaube nicht, daß bei satanischen Kulthandlungen Köpfe eingeschlagen werden.«

»Nein, bei den meisten nicht.«

»Damit wären wir wieder da, wo wir angefangen haben.« Fitz stand auf, um sich noch einen Nachtisch zu holen. »Wir sind nicht in Gefahr. Ich wette, wenn die Behörden Bens Bücher überprüfen, werden sie Unregelmäßigkeiten finden. Oder einen zweiten Satz Bücher.«

»Selbst wenn wir es mit einer Veruntreuung von Geldern zu tun haben, wissen wir trotzdem nicht, wer Ben oder den anderen Mann umgebracht hat«, stellte Susan fest.

»Diese Morde haben etwas mit Satan zu tun«, tönte Mrs. Ho­gendobbers klare Altstimme. »Der Teufel hat seine langen Kral­len in jemanden gesenkt, und, verzeihen Sie den Ausdruck, jetzt ist die Hölle los.«

35

Lange Schatten fielen auf die Gräber von Grace und Cliff Mi­nor. Die Sonne ging unter, ein goldenes Orakel, dessen Flam­menzungen von den Blue Ridge Mountains emporleckten. Scharlachrot stiegen die Streifen zum Firmament, dann wech­selten sie die Farbe, wurden golden, goldrosa, lavendelblau, purpurn und schließlich preußischblau, der erste Kuß der Nacht.

Harry hatte sich ihren Schal um den Hals gewickelt und be­trachtete das letzte Spiel der Sonne an diesem Tag. Mrs. Mur­phy und Tucker saßen zu ihren Füßen. Die schmerzende Melan­cholie des Sonnenuntergangs durchstach sie wie mit Nadeln. Sie betrauerte den Verlust der Sonne; sie wollte baden in Fluten von Licht. Immer, wenn es dämmerte, ließ sie ihre Arbeit für einen Augenblick ruhen, um sich zu versichern, daß die Sonne morgen wiederkehren würde wie neugeboren. Und heute abend regte sich dieselbe Hoffnung, doch mit größerer Anstrengung. Die Zukunft ist stets blind. Die Sonne würde sich erheben, aber würde auch sie, Harry, sich erheben?

Kein Mensch glaubt, daß er sterben wird, weder ihre Mutter noch ihr Vater hatten es geglaubt. Es ist wie beim Fangenspiel mit Abschlagen - der Tod »ist«, er jagt umher, berührt Men­schen, und sie fallen um. Bestimmt würde sie aufstehen, wenn es tagte, ein neuer Tag würde sich entfalten wie eine aufblühen­de Rose. Aber hatte Ben Seifert das nicht auch geglaubt? Den Verlust eines Elternteils, schmerzlich und zutiefst erschütternd, empfand Harry anders als den Verlust eines Gleichaltrigen. Benjamin Seifert hatte ein Jahr vor Harry an der Crozet High School den Abschluß gemacht.

Diesmal hatte der Tod jemanden geholt, der ihr nahestand - zumindest was das Alter betraf.

Ein schreckliches Gefühl von Verlassenheit überkam Harry. Unter diesen Grabsteinen lagen die zwei Menschen, die ihr das Leben geschenkt hatten. Sie erinnerte sich an ihre Belehrungen, sie erinnerte sich an ihre Stimmen, und sie erinnerte sich an ihr Lachen. Wer würde sich an sie erinnern, wenn Harry nicht mehr da wäre, und wer würde die Erinnerung an ihr eigenes Leben bewahren? Jahrhundert um Jahrhundert torkelte die Menschheit zwei Schritte vorwärts und einen zurück, aber immer gab es gute Menschen, komische Menschen, starke Menschen, und die Erinnerung an sie wurde mit den Jahren ausgelöscht. Königen und Königinnen wurde eine Erwähnung in den Chroniken zu­teil, aber was war mit den Pferdetrainern, den Bauern, den Nä­herinnen? Und mit den Posthalterinnen und Postkutschenfah­rern? Wer bewahrte die Erinnerung an ihr Leben?

Einsamkeit übermannte Harry. Wenn sie gekonnt hätte, sie hätte jedes Leben umarmt und hochgehalten. Wie die Dinge lagen, hatte sie mit ihrem eigenen Leben zu kämpfen.

Neuerdings fürchtete Harry die kommenden Jahre. Früher war die Zeit ihre Verbündete gewesen. Jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher. Wenn der Tod einen jeden Moment krallen kann, dann sollte man das Leben lieber voll auskosten. Das Schlimmste wäre, ins Grab zu gehen, ohne gelebt zu haben.

Die Fingerspitzen kribbelten ihr von der schneidenden Nacht­luft, und ihre Zehen schmerzten. Sie pfiff nach Tucker und Mrs. Murphy und machte sich auf den Weg ins Haus.

Harry hatte kein introvertiertes, nachdenkliches Naturell. Sie liebte ihre Arbeit. Sie liebte es, die Früchte ihrer Arbeit zu se­hen. Tiefschürfende Gedanken und philosophische Betrachtun­gen überließ sie anderen. Aber nach der heutigen Erschütterung war Harry in sich gekehrt, und sie war durchströmt vom Leben in seiner ganzen Traurigkeit und Harmonie.

36

Ein fürchterliches Spektakel draußen weckte Mrs. Murphy und Tucker. Mrs. Murphy lief ans Fenster.

»Das sind Simon und die Waschbären.«

Tucker bellte, um Harry zu wecken, denn bei dieser Kälte hielt Harry die Hintertür fest geschlossen, und sie konnten nicht hinaus auf die vergitterte Veranda. Deren Tür ließ sich leicht öffnen; wenn Harry nur die Hintertür aufmachte, konnten sie nach draußen.

»Laß mich in Ruhe, Tucker«, stöhnte Harry.

»Aufwachen, Mom. Komm schon.«

»Verdammter Mist.« Harrys Füße berührten den kalten Bo­den. Sie dachte, der Hund bellte ein Tier an oder müßte mal austreten. Sie polterte die Treppe hinunter und öffnete die Hin­tertür, und beide Tiere sausten hinaus. »Geht nur und friert euch die Ärsche ab. Ich laß euch nicht wieder rein.«

Katze und Hund hatten keine Zeit, ihr zu antworten. Sie flitz­ten zu Simon, der von zwei maskierten Waschbären gegen die Stallwand gedrückt wurde.

»Das gibt's doch wohl nicht.« bellte Tucker.

Mrs. Murphy, das Fell gesträubt bis zum äußersten, die Ohren flach angelegt, fauchte und heulte:»Ich kratz euch die Augen aus!«

Die Waschbären hatten keine Lust zu kämpfen und trollten sich.

»Danke«, keuchte Simon mit bebenden Flanken.

»Was war denn los?« fragte Mrs. Murphy.

»Blair hat Marshmallows rausgestellt. Die mag ich so gern. Diese Ekelpakete leider auch. Sie haben mich gejagt.« Ein Blutstropfen sickerte aus Simons Nase. Am linken Ohr blutete er auch.

»Bist ja ganz schon lädiert. Wollen wir auf den Heuboden ge­hen?« schlug Mrs. Murphy vor.

»Ich hab noch Hunger. Hat Harry Reste rausgestellt?«

»Nein. Sie hatte einen schlimmen Tag«, antwortete Tucker. »Die Menschen haben heute wieder eine Leiche gefunden.« »In Fetzen?« Simon war neugierig.

»Das nicht, aber die Geier waren dran.« Mrs. Murphy zitter­te, als ein Windstoß kam. Es fühlte sich an wie achtzehn Grad unter Null.

»Ich hab mich immer gefragt, was Vögel an den Augen finden. Da gehen sie als erstes dran an die Augen und den Kopf.« Si­mon rieb sich das Ohr, das zu brennen begonnen hatte.

»Laßt uns reingehen. Kommt. Es ist scheußlich hier draußen.«

Sie zwängten sich unter dem großen Scheunentor hindurch. Simon blieb stehen, um ein paar Körner aufzulesen, die Toma­hawk und Gin Fizz hatten fallen lassen. Da die Pferde schlam­pige Esser waren, konnte Simon sich über die Nachlese herma­chen.

»Das dürfte bis morgen vorhalten. « Das graue Opossum setz­te sich hin und drapierte seinen rosa Schwanz um sich herum. »Kommt rauf, oben im Heu ist es warm.«

»Ich kann die Leiter nicht raufklettern«, winselte Tucker.

»Ach ja, das hatte ich vergessen.« Simon rieb sich die Nase.

»Gehen wir in die Sattelkammer. Da ist die alte schwere Pfer­dedecke drin, die Gin Fizz zerrissen hat. Sie hat ein Wollfutter, da können wir uns reinkuscheln.«

»Sie hängt auf dem Sattelgestell«, rief Tucker.

»Ja? Dann schubs ich sie runter.« Schon hakte Mrs. Murphy ihre Krallen unter die Unterseite der Tür. Diese, alt und verzo­gen, gab etwas nach, und die Katze klemmte ihre Pfote dahin­ter. Tucker hielt unterdessen die Nase am Boden, um zu sehen, ob sie helfen konnte. Nach einer Minute ging die Tür quiet­schend auf. Die Katze sprang auf das Sattelgestell, grub ihre Krallen in die Pferdedecke und beugte sich damit nach vorn. Sie kam mit der Decke herunter. Die drei kuschelten sich nebenein­ander hinein.