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Dragoner rief ihr nach: >Ich komme dich morgen abholen.<

Den ganzen nächsten Tag konnte Dragoner sich nicht auf sei­ne Pflichten konzentrieren. Er dachte nur an Silverskins. Als die Nacht anbrach, marschierte er durch die Stadt, ohne auf die Zurufe seiner bummelnden Freunde zu achten. Er ging hinaus auf den schmalen Feldweg und kam bald zu dem Häuschen. Er klopfte an, und eine alte Katze öffnete. >Ich komme Silverskins abholen, sagte er zu der alten weißen Katz<. >Treib keine Späße mit mir, junger Spund<, fauchte die alte Katzendame. >Ich spaße nicht<, sagte er. >Ich habe sie gestern abend nach dem Ball nach Hause begleitet. < >Du findest meine Tochter auf dem Hü­gel.< Die alte Katze zeigte auf den Friedhof und schloß die Tür.

Dragoner stürmte den Hügel hinauf, aber von Silverskins war nichts zu sehen. Er rief ihren Namen. Keine Antwort. Er sprang von einem Grabstein zum anderen. Keine Spur von ihr. Er kam ans Ende einer Reihe mit Menschengedenktafeln und sprang auf einen kleinen eckigen Grabstein. Darauf stand: >Hier ruht mein hübscher Liebling Silverskins. Geboren 1699. Gestorben 1704. < Und auf dem Grab lag ihre blaue Seidenschleife.«

Die Kätzchen schrien, als die Geschichte zu Ende war.

Harry sah zu den verängstigten Babys hinüber. Mrs. Murphy lag vor ihnen auf der Seite, die Augen halb geschlossen.

»Mrs. Murphy, triezt du die Kätzchen?«

»Hrhr«, feixte Mrs. Murphy nur.

58

Keine Kobolde polterten in der Nacht, auch keine menschlichen Schreckgespenster. Harry, Cynthia und Blair erwachten an ei­nem kristallklaren Morgen. Harry konnte sich an keinen Win­tertag erinnern, der so gefunkelt hätte wie dieser.

Womöglich hatte Harry überreagiert. Vielleicht stammten die Spuren von jemand, der verbotenerweise nach Tieren Ausschau hielt, die er in eine Falle locken konnte. Vielleicht war der La­ster oder PKW, den Cynthia in Blairs Zufahrt einbiegen hörte, einfach jemand gewesen, der sich im Schnee verfahren hatte.

Als Harry mit der Arbeit begann, kam sie sich wegen ihrer Ängste ein bißchen dämlich vor. Vor den Fenstern sah sie Stra­ßenarbeiter die großen Schneepflüge lavieren. Ein Kleinwagen am Straßenrand war vollkommen mit Schnee bedeckt.

Mrs. Hogendobber wuselte herum, und die zwei tratschten bei der Arbeit. Boom Boom war die erste, die ins Postamt kam. Sie hatte sich kurz vor dem Sturm beim Autohändler einen Wago­neer mit Allradantrieb ausgeliehen. Gekauft hatte sie ihn noch nicht. »Wie günstig, so einen langfristigen Kredit zu haben«, bemerkte Mrs. Hogendobber.

»Orlando kommt heute an. Mit der Maschine um halb elf.

Blair hat gesagt, er holt ihn ab, und heute abend essen wir zu­sammen. Wartet nur, bis ihr ihn seht. Er ist wirklich was Be­sonderes.«

»Fair auch«, verteidigte Harry ihren Ex-Ehemann. Wenn sie vorher nachgedacht hätte, hätte sie vermutlich den Mund gehal­ten, aber das war es ja eben: Sie dachte nicht nach. Was immer ihr in den Sinn schoß, sie sprach es im selben Moment aus.

Boom Booms lange Wimpern flatterten. »Aber sicher. Er ist ein lieber, süßer Kerl, und er ist mir nach Kellys Tod ein großer Trost gewesen. Ich hab ihn sehr gern, aber, nun ja, er ist provin­ziell. Er kennt nichts als seinen Beruf. Gib's zu, Harry, dich hat er auch gelangweilt.«

Harry warf die Post, die sie in der Hand hielt, auf die Erde. Mrs. Hogendobber trat klugerweise an Harrys Seite, für alle Fälle.

»Wir alle langweilen uns gelegentlich gegenseitig. Niemand ist immer und überall aufregend.« Harrys Gesicht lief rot an.

Mrs. Murphy und Tucker spitzten die Ohren.

»Ach, hör auf. Er war nicht der Richtige für dich.« Boom Boom hatte eine gemeine Freude daran, andere Leute zu ärgern. Emotionen waren der einzige Austausch, den Boom Boom pflegte. Da sie keine richtige Beschäftigung hatte, kreisten ihre Gedanken um sich selbst und die Gefühle anderer. Manchmal ödeten sie sogar ihre Vergnügungen an.

»Er war für sehr lange Zeit genau der Richtige. Und jetzt nimm deine Post und erlöse mich von deiner perfekt ge­schminkten Visage.« Harry biß die Zähne zusammen.

»Dies ist ein öffentliches Gebäude, und ich kann tun und las­sen, was ich will.«

Mirandas Altstimme vibrierte vor Autorität. »Boom Boom, für eine Frau, die gnadenlos mit ihrer Empfindsamkeit hausie­ren geht, sind Sie erstaunlich unempfindsam gegen andere Leu­te. Sie haben hier eine höchst unangenehme Situation geschaf­fen. Ich schlage vor, Sie denken in Ihrer freien Zeit darüber nach, und das heißt den Rest des Tages.«

Boom Boom stürmte eingeschnappt hinaus. Bevor es Mittag wurde, würde sie ihre sämtlichen Bekannten anrufen, um sie darüber zu informieren, wie mitgenommen sie war, weil Harry und Mrs. Hogendobber sich gegen sie verbündet und sie so beleidigt hatten.

Sie würde es außerdem für geboten halten, ihren Psychiater anzurufen und dann etwas zu finden, das ihre Nerven beruhigte.

Mrs. Hogendobber bückte sich etwas steif und hob die Post auf, die Harry auf die Erde geworfen hatte.

»Nicht, Miranda, ich mach das schon. Ich hab mich ziemlich albern benommen.«

»Sie lieben ihn noch.«

»Nein«, erwiderte Harry ruhig, »aber ich liebe, was wir einan­der gewesen sind, und er ist es wert, als Freund geliebt zu wer­den. Irgendwann wird er irgendeiner Frau ein guter Kamerad sein. Darum geht es doch in der Ehe, oder? Kameradschaft? Gemeinsame Ziele?«

»Im Idealfall. Ich weiß nicht, Harry, die jungen Leute heutzu­tage wollen so viel mehr als wir früher. Sie wollen Aufregung, Romantik, gutes Aussehen, einen Haufen Geld, immerzu Ur­laub. Als George und ich heirateten, hatten wir diese Ansprüche nicht. Wir haben erwartet, daß wir zusammen hart arbeiteten und unsere Aussichten verbesserten. Wir haben gespart und geknausert. Das Feuer der Romantik loderte mal mehr, mal weniger, aber wir waren ein Team.«

Harry dachte über Mrs. Hogendobbers Worte nach. Sie hörte auch zu, als Miranda das Gespräch auf Kirchenklatsch brachte. Die beste Sopranistin im Chor und der beste Tenor hatten sich darüber verkracht, wer die meisten Soli bekam. Großzügig ver­streute Mrs. Hogendobber ihre Perlen der Weisheit.

Um ein Uhr kam Blair mit Orlando Heguay herein. Das Flug­zeug hatte Verspätung gehabt, der Flugplatz war überfüllt ge­wesen, aber alles war gutgegangen. Orlando bezauberte Mrs. Hogendobber. Harry fand, er war genau der Richtige für Boom Boom: weltgewandt, reich und unglaublich attraktiv. Ob er auch der Typ war, der einer Frau unablässig die Aufmerksamkeit schenken konnte, die Boom Boom forderte, würde sich beizei­ten herausstellen.

Als Blair sein Postfach öffnete, griff eine behaarte Pfote nach ihm. Er riß seine Hand zurück.

»Ich hab dich erschreckt«, lachte Mrs. Murphy.

»Du kleiner Teufel.« Blair langte wieder in sein Fach und hielt eine Minute ihre Pfote fest.

Orlando ging umher und blieb vor der Fotografie von dem nicht identifizierten Opfer stehen. Er betrachtete sie genau, dann stieß er einen leisen Pfiff aus. »Großer Gott.«

»Was ist los?« fragte Mrs. Hogendobber.

Harry ging zu ihm, um zu erklären, warum das Foto an der Wand hing, aber bevor sie den Mund aufmachen konnte, sagte Orlando. »Das ist Tommy Norton.«

Alle drehten sich mit aschfahlen Gesichtern zu ihm um. Harry sprach als erste: »Sie kennen den Mann?«

»Das ist Tommy Norton. Ich meine, die Haare stimmen nicht, und er sieht dünner aus als damals, aber wenn das nicht Tommy Norton ist, dann ist es sein gealterter Doppelgänger.«

Miranda wählte Rick Shaws Nummer, bevor Orlando seinen Satz zu Ende gesprochen hatte.

59

Nach ausgiebigen Entschuldigungen, weil sie Orlando im Ur­laub belästigten, hatten Rick und Cynthia die Tür von Ricks Büro geschlossen. Blair wartete draußen und las Zeitung.