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Am Ende des ersten Jahres waren allmählich Briefe von Phidias mit der Frage eingetroffen: »Wann kommst du heim?« Aber Archimedes hatte keine Antwort darauf gewußt. Statt dessen hatte er seinem Vater lange Briefe geschrieben: über die Hypothese des Ariastarchos, daß sich die Erde um die Sonne dreht, über die Ekliptikerkenntnisse von Conon, über das delische Problem (mathematischgeometrische Diskussion der Würfelverdoppelung, A. d. Ü.) und die Versuche, mit denen verschiedene Mathematiker die Quadratur des Kreises zu bewerkstelligen suchten. Und Phidias hatte jeden Brief auf seine Art beantwortet: mal erstaunt, mal enthusiastisch und dann wieder voller Argumente und Beweise. Aber irgendwo tauchte in allen Briefen dieselbe Frage auf: »Wann kommst Du heim?« Archimedes hatte gewußt - o ja, und das nur allzu deutlich! -, wie sehr ihn sein Vater vermißte. Denn jetzt hatte Phidias niemanden mehr, mit dem er seine Ideen teilen konnte, niemanden, der ihn verstand. Trotzdem hatte er nicht nach Hause gewollt.

Anfang des Frühjahrs war dann der letzte Brief von Phidias eingetroffen: »Es ist zum Krieg mit Rom gekommen, und mir geht es nicht gut. Ich habe den Unterricht einstellen müssen. Liebster Ar-chimedion, Du mußt nach Hause kommen, Deine Mutter und Deine Schwester brauchen Dich.« Deine Mutter und Deine Schwester. Für sich selbst hatte Phidias nichts gefordert, obwohl er Archimedes schon längst gebraucht hätte. Nur eine einzige Bitte, eine Frage hatte er gestellt, und immer wieder war sie verhallt.

Diesmal war aus der Frage ein Befehl geworden, den man nicht länger ignorieren konnte. Langsam und widerwillig hatte sich Archimedes darangemacht, seine Möbel zu verkaufen, die er in Alexandria erworben hatte. Er suchte einen Nachmieter für seine Räume, veräußerte ein paar seiner Maschinen, die er gebaut hatte, und einiges von dem Werkzeug, das er dafür gekauft hatte. Dabei war ihm jeder Aufschub willkommen gewesen. Als das Schiff schließlich unter vollen Segeln nach Syrakus aufbrach, hatte er beim Anblick des immer kleiner werdenden Alexandria geweint. Aber inzwischen kamen ihm diese Tränen oberflächlich vor. Der Schmerz, der vor ihm lag, würde viel, viel tiefer gehen.

Die Tür zu seinem Zimmer öffnete sich, und Philyra steckte den Kopf herein. Als sie sah, daß er schon wach war, kam sie herein.

Philyra war fast sieben Jahre jünger als ihr Bruder, trotzdem benahm sie sich meistens so, als ob sie sieben Jahre älter wäre. Sie war ein selbstbewußtes, nüchternes Mädchen, das kein Blatt vor den Mund nahm. An ihrer Schule war sie beliebt gewesen, und auch die Nachbarn hielten große Stücke auf sie. Trotz ihrer großen Zuneigung zu ihrem Bruder hielt sie ihn für einen hoffnungslosen Traumtänzer, der dringend eine feste Hand brauchte. Jetzt steuerte sie entschlossen auf ihn zu. Über dem Arm trug sie ein zusammengefaltetes, gelbes Stück Tuch, von dem er sich nicht sicher war, ob es sich um ein Handtuch, eine Decke oder ein Kleidungsstück handelte. Er setzte sich im Bett auf und zog seine langen Beine an, um ihr Platz zu machen. Sie setzte sich. Unter ihren kritischen Blicken wurde er sich einiger höchst unangenehmer Dinge bewußt: Erstens hatte er unter der Decke nichts an, zweitens war seine nackte Haut mit Flohstichen übersät, drittens kräuselte sich an Kinn und Nacken ein unrasierter Bart, und zu allem Überfluß waren auch noch seine Haare ganz stumpf vor Schmutz. Beim Tageslicht fiel ihm aber auch viel deutlicher auf, wie sehr sie sich seit ihrer letzten Begegnung verändert hatte. Sie war voller geworden, und ihr Körper hatte deutlich weibliche Rundungen angenommen. Innerhalb des Hauses trug sie nur eine leichte Leinentunika, unter der sich ihre Brüste verräterisch abzeichneten. Plötzlich fühlte er sich vor ihr verlegen.

»Wann hast du das letzte Mal gebadet?« fragte Philyra naserümpfend.

»Auf Schiffen kann man nicht baden«, verteidigte er sich.

Philyra seufzte. »Nun, dann wirst du dich gleich nach dem Frühstück ins Badehaus in der Neapolis begeben müssen. Du siehst einfach despektierlich aus! Hast du noch saubere Kleidung?«

Unglücklich räusperte er sich, gab aber sonst keine Antwort. »Ich habe mir nicht vorstellen können, daß es Papa so schlechtgeht«, sagte er statt dessen. »Wie lange.«

»Seit Oktober«, erwiderte sie kühl. »Er hat dir ja damals geschrieben, aber vermutlich hast du den Brief erst nach dem Winter bekommen.«

Zwischen Oktober und April ruhte der Schiffsverkehr auf dem Mittelmeer. Selbst wenn Archimedes den Brief seines Vaters noch im Spätherbst bekommen hätte, hätte es für ihn keine Möglichkeit gegeben, nach Hause zu kommen, bis die Schiffslinien wieder verkehrten. Trotzdem entsetzte ihn die Vorstellung, daß er sich in Alexandria vergnügt hatte, während Phidias den ganzen Winter über krank gewesen war.

»Ich habe ihn erst Ende April bekommen«, sagte er unglücklich. »Aber selbst dann dachte ich, ich hätte noch genug Zeit, um meine Geschäfte in Alexandria abzuwickeln. Schließlich hatte er nur geschrieben: >Ein Krieg ist ausgebrochen, und mir geht’s nicht gut.< Meiner Meinung nach hieß das nur, daß er mich zu Hause als Hilfe bei seinen Schülern haben wollte, bis es ihm wieder besserging.«

»Er dachte, er würde wieder gesund«, sagte Philyra, der plötzlich Tränen in den Augen standen. »Er hatte Fieber und Gelbsucht, aber die hatte Mama auch, und ihr ging’s wieder besser. Da glaubten wir, auch bei ihm würde es bergaufgehen, aber es kam anders, und im Frühjahr-«

Archimedes streckte die Hand aus und berührte ihre Schulter. Da war es mit der Beherrschung vorbei, sie ließ das Bündel fallen, warf sich in seine Arme und weinte. »Es war fürchterlich*.« rief sie bewegt. »Es ging ihm immer schlechter und schlechter, und wir konnten nichts dagegen tun!«

»Es tut mir so leid«, sagte er hilflos, »wäre ich doch nur hier gewesen.«

»Er wollte dich unbedingt sehen«, schluchzte Philyra. »Ständig hat er Chrestos zum Hafen hinuntergeschickt, er solle nachschauen, ob irgendwelche Schiffe aus Alexandria angekommen wären. Und manchmal war es auch so, aber du warst nie darauf. Dann hat er manchmal gemeint, du wärst sicher tot, dein Schiff wäre gesunken oder du in Alexandria gestorben. Und dann hat er um dich geweint und uns alle Trauerkleidung tragen lassen. Das war immer das Schlimmste. Warum bist du nicht schon letztes Jahr zurückgekommen?«

»Es tut mir leid!« wiederholte er kläglich, während auch ihm die Tränen kamen. »Philyra, wenn ich’s gewußt hätte, wäre ich gekommen. Ich schwör’s.«

»Ich weiß«, sagte sie und schluckte ihr Schluchzen hinunter. »Ich weiß.« Sie tätschelte seinen Rücken, als ob er zusammengebrochen wäre, dann zog sie sich zurück und wischte die Tränen ab. Gegen den Tod gab es kein Mittel, und sie war entschlossen, diesen Kummer mit aller Würde zu tragen, die sie aufbieten konnte. Sie hob das Bündel wieder auf und breitete es auf dem Bett aus. Es entpuppte sich als neuer Mantel aus feiner, gelber Wolle samt einer Leinentunika mit einem gelben Spiralenmuster an beiden Seiten. »Die habe ich letztes Jahr für dich gemacht«, sagte Philyra. »Du hast doch bestimmt keine saubere Kleidung, oder?«

»Wahrscheinlich nicht«, gestand er, wobei er mit einem Finger langsam das Muster nachzeichnete. Es bestand aus einer schnurgeraden Reihe von Doppelspiralen, von den Schultern bis zum Knie. Von jedem Spiralenzentrum führte eine Linie in Kreisbewegungen nach außen, drehte um und mündete in den Mittelpunkt der nächsten Spirale. Ein interessantes Muster. Wenn man Spirale A und Spirale B mit einer Tangente verband, dann.