»Er kannte deinen Bruder durch mich«, antwortete Archimedes. »Außerdem sollte Marcus auf seinen Wunsch hin nach dem Kriege wieder nach Syrakus kommen, um sein Lateindolmetscher zu werden. Das wäre eine gute Stellung gewesen, die sehr gut zu Marcus gepaßt hätte. Hieron hat mir davon erzählt. Deine Nachricht wird auch ihm weh tun.« Archimedes erhob sich, wobei er die Flöte vorsichtig mit beiden Händen festhielt. »Es ist Verschwendung, und nichts als Verschwendung. Ich weiß nicht, was dein Volk der Welt noch antun wird.«
Auch Gaius stand auf und senkte den Kopf mit einer Bewegung, die weder Ja noch Nein bedeutete. »Marcus war ein Römer«, sagte er, »und ich würde dich darum bitten, Herr, daß du auch uns so siehst. Aber ich möchte mich nicht mit dir streiten. Ich bin dir dankbar, daß du so freundlich warst, mit mir zu sprechen, und auch dankbar für die Güte, mit der du meinen Bruder zu seinen Lebzeiten behandelt hast. Er hat dich tief bewundert.«
Archimedes schüttelte zornig den Kopf. »Erst als es zu spät war, habe ich begriffen, wie außergewöhnlich dein Bruder war«, sagte er. »Ich habe mir selbst viel Schuld zuzuschreiben. Hoffentlich tröstet es dich ein wenig, wenn du weißt, daß er sich sogar als Sklave den Respekt seiner Mitmenschen erworben hat.« Er zögerte und versuchte nachzudenken, ob es noch etwas gäbe, was er sagen sollte. Dann fiel ihm ein, daß seine Besucher seit ihrem Lager einen weiten Weg zurückgelegt hatten. Er erkundigte sich, ob sie etwas Wein wollten.
Sie bedankten sich und meinten, sie würden tatsächlich gerne etwas Kaltes zu trinken haben. Als Archimedes in den Hauptteil des Hauses hinübergehen wollte, deutete Fabius auf die bleibeschlagene Kiste mitten in der Werkstatt und fragte unsicher: »Was ist das für eine Maschine? Eine neue Art von Katapult?«
»Das mögen sämtliche Götter und Helden verhüten!« rief Archimedes leidenschaftlich.
Noch nie hatte er von einer Sache so die Nase voll wie von Katapulten. Längst hatte er den Überblick verloren, wie viele er gebaut hatte: Ein-Talenter, Zwei-Talenter, Drei-Talenter, DreieinhalbTalenter und Vier-Talenter. Dazu noch Pfeilgeschütze mit besonders großer Reichweite und besonders großen Bolzen. Dagegen waren ihm die Außenarbeiten an den Wehrmauern direkt wie eine Erleichterung vorgekommen. Die häßliche, kleine Überraschung, die er sich zusammen mit Kallippos für jede Belagerungsmaschine ausgedacht hatte, die in die Nähe der Mauer kam, war ihm wie eine Komödie vorgekommen, die im Theater einen Tragödienzyklus beendet. Falls der Krieg weitergehen sollte, gab es noch eine lange Liste von Dingen, die man tun konnte, solange es Zeit und Vorräte erlaubten. Deshalb war er unendlich froh, daß er ihnen entrinnen konnte - wenigstens für kurze Zeit. Er war genauso erleichtert über den Frieden gewesen wie jeder andere in der Stadt. »Das ist ein Wasseraulos«, erklärte er Fabius glücklich, »oder besser gesagt, es wird einer sein, sobald ich damit fertig bin.«
»Ein was?« fragte Fabius verwirrt. Archimedes strahlte. »Eine Wasserorgel. Schau her, erst füllt man den Tank mit Wasser und dann legt man diese Halbkugel hinein.« Er löste das Becken mit den Löchern von der einen Tankkante und hielt es kopfüber in die leere Zisterne. »Und dann führt man von oben einen Schlauch hier in diese Öffnung, und ein zweiter führt dann hier wieder heraus. Diese Öffnung bleibt verschlossen, bis sich auf Tastendruck die Ventile öffnen - die Ventile sind der schlaueste Teil - und man mit Hilfe des Blasebalgs Luft hineinpumpt. Das Wasser drückt die Luft zusammen. Und wenn man sie dann durch die Pfeifen hinausläßt, entsteht ein richtig lauter Ton.« Damit stellte er das Becken wieder auf die Tankkante. »Ich warte noch auf die Pfeifen vom Bronzeschmied.«
»Aber wozu ist das gedacht?« fragte Fabius.
»Es ist ein Musikinstrument«, sagte Archimedes verblüfft. »Ich habe doch schon gesagt, daß es ein WassenWos ist, oder? Meine Frau wünscht sich einen.«
»Ein Musikinstrument!« rief Fabius und schüttelte verwundert den Kopf. »Also hat der Friede den Größten aller Ingenieure so weit geschwächt, daß er nun statt Katapulte zum Vergnügen von Frauen Flöten baut!«
Einen Augenblick starrte ihn Archimedes völlig verständnislos an, dann wurde er wütend. »Geschwächt?« wiederholte er zornbebend. »Katapulte sind dumme, gottverhaßte Holzbrocken, die Steine werfen, um Leute zu töten! Hoffentlich muß ich mein ganzes Leben lang nie mehr eines dieser schmutzigen Geräte anfassen! Das hier wird zum Ruhme Apollons und der Musen mit einer Stimme wie Gold singen. Das hier ist einem Katapult so haushoch überlegen wie. wie.« Er suchte hilflos nach einem Vergleich, dann deutete er ungeduldig auf den Abakus. »Wie das da einem Schwein!«
»Aber ich habe auch keine Ahnung, was das da ist!« sagte Fabius belustigt.
»Eine Berechnung des Verhältnisses zwischen einem Zylindervolumen und einer eingeschlossenen Kugel«, antwortete Archimedes mit kalter Präzision. Er ging darauf zu und betrachtete es stirnrunzelnd. »Oder jedenfalls ein Rechen versuch.« Der Ansatz des Problems und die Lösung dazu hatten sich ihm entzogen.
»Und welchen Nutzen hat das?« fragte Fabius, der ebenfalls herüberkam und die eingeritzten Zeichnungen im Sand anstarrte: endlos mit Buchstaben beschriftete Kugeln und Zylinder; Buchstaben, die an der Seite in unerschöpfliche Rechnungen übergingen, Buchstaben auf Kurven, auf Geraden, auf Gleichungen und Ungleichungen. So viel Intelligenz, dachte er, und alles einfach in die Luft verpufft!
»Das braucht keinen Nutzen zu haben«, erklärte Archimedes, während er noch immer auf sein Diagramm hinunterschaute. In seinem Kopf stieg ein Kreis auf der Achse des Zylinders empor, dessen Höhe mit dem Kreisdurchmesser identisch war, dann drehte er sich im Mittelpunkt um sich selbst und wurde zur Kugel - perfekt, perfekter als alles andere auf der Erde. »Es existiert einfach so.« Er studierte seine Berechnungen und erkannte, daß sie ihn ins Leere führten. Da hob er ein flaches Holzstück auf und strich damit sorgfältig die Sackgasse glatt.
»Was hast du gesagt?« erkundigte sich Gaius auf Lateinisch. Fabius hatte kein Wort von der Wasserorgel übersetzt. Er hatte keine Ahnung, was ein »Ventil« war oder was mit »Luftdruck« gemeint war, und außerdem hegte er den Verdacht, daß es in der lateinischen Sprache dafür keine Wörter gab.
»Die Kiste in der Mitte des Raumes gehört zu einem Musikinstrument«, sagte Fabius. »Ich habe gesagt, von Katapulten zu dem hier wäre es ein trauriger Abstieg. Das hat er als Beleidigung aufgefaßt und gemeint, Musik wäre etwas Edleres als der Krieg, und das hier«, er deutete auf die Sandschatulle, »sei noch edler als alles andere.«
Während die Sackgasse im Sand verschwand, erkannte Archimedes plötzlich den Pfad, der über den sich drehenden Kreis zur Wahrheit führte. Atemlos angelte er mit dem Fuß nach dem Schemel und hob seinen Zirkel auf. »Nur eine Minute«, sagte er zu seinen Besuchern. »Ich habe gerade etwas gesehen. Geht einstweilen ins Haus und trinkt etwas. Ich komme gleich.«
Verblüfft schauten ihn die beiden an, aber er nahm sie schon längst nicht mehr wahr. Der Zirkel hinterließ im Sand präzise Berechnungen, denen seine Augen mit höchster Konzentration und Freude folgten. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte Fabius, wie die Fundamente seiner sicheren Überzeugungen ins Wanken gerieten. Dieser Verstand war nicht auf Luft gebaut. Plötzlich war es ganz still geworden, etwas füllte den Raum und ließ ihm die Haare auf den Armen zu Berge stehen. Und dieses Etwas existierte nicht zum Nutzen der Menschen. Schwindelerregend verschob sich der Blickwinkel, und er überlegte, welchen Nutzen wohl er für ein Universum darstellte. Unsäglich verängstigt zog er den Kopf ein und wich zurück.