Philyra schob seine Hand mit Nachdruck vom Muster. Er schaute auf und blinzelte sie verdutzt an. »Das ist zum Anziehen da«, erklärte sie ihm, »und nicht für geometrische Versuche.«
»Oh«, sagte er. »Ja.« Kurz darauf fiel ihm wieder ein, daß die Kleidungsstücke ein Geschenk waren, und er fügte hinzu: »Danke, sie gefallen mir sehr gut.«
In gespielter Verzweiflung schüttelte sie den Kopf. »Ai, Medion! Du hast dich kein bißchen verändert!«
Er wußte nicht so recht, was er davon halten sollte, aber als sie seine Verwirrung bemerkte, lächelte sie noch einmal und strich ihm eine widerspenstige, schmutzige Haarlocke zurück. »Und jetzt«, fuhr sie geschäftsmäßig und hoffnungsvoll fort, »hast du Geld? Wir sind pleite. Wir mußten schon einige Decken und Töpfe verkaufen, um den Arzt bezahlen zu können.«
Archimedes zuckte die Schultern. Der Gewinn aus der Wasserschnecke hatte sich großteils in Alexandria verflüchtigt, aber ein bißchen was war noch da und noch etwas von den Kleinigkeiten, die er beim Verlassen der Stadt verkauft hatte. »Ich habe etwas«, sagte er, »so hundert Drachmen, schätze ich - Marcus weiß das genau.«
»Hundert Drachmen!« rief sie begeistert. »Das ist gut! Und ich hatte schon Angst, wir müßten sofort bei Papas alten Schülern die Runde machen und sie bitten, wieder Mathematikstunden zu nehmen. Aber mit hundert Drachmen haben wir ein paar Monate Frist gewonnen.«
Archimedes räusperte sich und rutschte nervös umher. »Ich werde nicht unterrichten«, erklärte er.
Verzweifelt starrte sie ihn an. »Medion, du kannst dich nicht von Geometrie ernähren!«
»Das weiß ich!« protestierte er. »Ich werde mich um eine Stelle als Heeresingenieur bewerben.« Und dann stürzte er sich sofort in die Argumente, die er von langer Hand sorgfältig vorbereitet hatte. »In Anbetracht des Krieges müßte die Stadt einen Bedarf an Katapulten haben, und auch der Tyrann müßte bereit sein, dafür zu zahlen. Mit Maschinen ist mehr Geld zu machen als mit Unterrichten, und mit Maschinen kenne ich mich wirklich aus, das weißt du genau. Mit dem Bewässerungsgerät, das ich letzten Sommer gebaut habe, habe ich innerhalb von zwei Monaten mehr verdient als Papa in einem ganzen Jahr. Außerdem ist es doch meine Pflicht, wenn möglich bei der Verteidigung der Stadt zu helfen, oder? Ich werde mich heute abend mit jemandem treffen, und dann werden wir mal sehen.«
Daraufhin lächelte sie, allerdings mehr, weil sie ihm Mut machen wollte, als aus echter Überzeugung. Aus seinen Briefen nach Hause kannte sie zwar die Wasserschnecke vom Hörensagen, trotzdem zweifelte sie sehr, ob sie auch erfolgreich war, wie er behauptete. Und was die Sache mit den Katapulten betraf - nun, der König hatte längst seine Ingenieure, die so etwas bauen konnten, warum sollte er da einen neuen, völlig unerprobten Mann wollen? Und selbst wenn es so wäre, schien es ziemlich unwahrscheinlich, daß man davon reich werden konnte. Während ihrer gemeinsamen Kindheit hatte ihr Bruder jede Menge Maschinen gebaut, von denen viele nicht funktioniert hatten. Im Vergleich zum Mathematikunterricht schien ihr der Maschinenbau die wesentlich weniger verläßliche Einnahmequelle zu sein. Und trotzdem mochte sie seine Maschinen. Als kleines Mädchen war sie immer still dagesessen, hatte ihm beim Bauen zugeschaut und aufmerksam seinen Erklärungen gelauscht. Für sie persönlich waren die Konstruktionen ihres Bruders das allerschönste Spielzeug, egal, ob sie funktionierten oder nicht. Wenn er davon leben könnte, wäre sie hoch erfreut. Einen Versuch war es jedenfalls wert - und inzwischen verfügte der Haushalt über hundert Drachmen und hatte einige Monate Frist, bis das Geld aufgebraucht war.
Archimedes merkte, daß sie seinen Plan akzeptiert hatte. Seltsamerweise tat es ihm weh, so als ob sich wieder ein Tor in den Mauern, die ihn umgaben, geschlossen hätte. In einem der seltenen Momente praktischer Vorausplanung hatte er beschlossen, daß er drei Dinge wirklich konnte: reine Mathematik, Maschinenbau und Flötespielen. Für seinen Lebensunterhalt mußte er die eine oder andere Begabung in die Tat umsetzen. Musik war etwas Persönliches, etwas, das er für sich und seine Freunde tat. Auf Befehl zu spielen, kam ihm wie eine Entweihung vor. Und was die reine Mathematik anbetraf, da hatte Philyra wirklich recht: von der Beschäftigung mit Geometrie konnte man nicht leben. Und als Lehrer kam er nicht in Frage. In der Vergangenheit hatte ihn sein Vater gelegentlich zur Unterstützung herangezogen. Das Bewußtsein, dabei versagt zu haben, war für ihn alles andere als angenehm. Alles, was ihm sonnenklar schien, hatten die Studenten nie begriffen, und seine ungeduldigen Erklärungen hatten sie noch mehr verwirrt. Also blieb nur eines übrig: Maschinen bauen.
Er fürchtete sich davor. Es machte Spaß, eine neue Maschine zu bauen. Er liebte es, mitanzusehen, wenn ein Problem so exakt wie ein mathematischer Lehrsatz aufgeschlüsselt wurde und er sich anschließend einen Apparat ausdenken konnte, der diesem Problem voll und ganz gerecht wurde. Er genoß es, sich völlig in diese Aufgabe zu vertiefen, die komplexe Koordination zwischen Kopf und Händen und schließlich die unbestreitbar handfeste Realität der endgültigen Lösung. Aber wenn man nach dem Bau einer Maschine noch eine vom selben Typ bauen mußte und noch eine und noch eine und noch eine - das war langweilig, nein, noch schlimmer. Das war ein bedrückendes Gefängnis, in dem die Seelenflügel schrumpften und abstarben. Reine Mathematik - das war Licht und Luft und köstliche Freiheit, und er liebte sie mehr als alles andere auf der Welt. Aber leider war er kein Adeliger, der es sich leisten konnte, sich ausschließlich der reinen Mathematik zu verschreiben, ohne auch nur den geringsten Gedanken an das unfeine Thema Geld zu verschwenden. Er mußte eine Familie ernähren. Die unsichtbare Welt konnte nicht länger seine Heimat sein, sondern nur ein Ort, den er ab und zu besuchen konnte.
Und bei diesen Besuchen hätte er auch keinen Begleiter mehr, keinen einzigen. Er würde allein sein, so wie es sein Vater während der letzten drei Jahre gewesen war. Ein neuer Schmerz ließ ihn zusammenzucken. Vermutlich war das Schicksal eben doch gerecht.
Doch dann fiel ihm wieder der Krieg ein. In Alexandria hatte man nur schwer daran glauben können, aber hier in Syrakus nahm er schon größere und bedrohlichere Ausmaße an. Zeilen eines alten Liedes gingen ihm durch den Kopf:
»Kein Sterblicher mag jemals sagen, was dem Morgen das Schicksal gebiert, und daß Zufriedenheit bleibet dem Menschen, der glücklich sich fühlt.
Denn rasch wie Libellengeschwirr, ja schneller noch, nahet Veränderung.«
»Du ziehst dich an«, befahl Philyra und tätschelte ihm die Hand. »Ich werde mit Marcus reden, damit deine übrigen Sachen gewaschen werden.«
Marcus nahm gerade ein Bad, als ihn Philyra fand. Privathäuser hatten im allgemeinen keine Bäder, und zur damaligen Zeit waren die Badehäuser nur den Bürgern vorbehalten. Also wusch sich Marcus draußen im Hof mit einem Schwamm und einem Eimer. Selbst die freien Männer eines Haushaltes liefen drinnen nackt herum, daran war nichts ungewöhnlich, und über einen nackten Sklaven zerbrach sich sowieso niemand den Kopf. Trotzdem zögerte Philyra verlegen und wartete am Fuß der Treppe, bis Marcus fertig war. Sie wußte nicht so recht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte, denn auch ihr war klar, daß sie vermutlich einen Haussklaven verkaufen mußten. Sie hoffte, es träfe Marcus. Während der Hausfehde hatte sie sich immer auf die Seite von Sosibia geschlagen und Marcus als linkischen Barbaren betrachtet. Außerdem kam er ihr nach dreijähriger Abwesenheit wie ein Fremder vor. Seinen Verkauf konnte sie sich durchaus vorstellen, während ihr schon der bloße Gedanke unerträglich war, dieses Schicksal einem der anderen anzutun. Und noch etwas fiel ihr auf: Obwohl Marcus auf der linken Seite eine heftige Prellung und genauso viele Flohstiche hatte wie ihr Bruder, wirkte er gesund und gepflegt. Das hieß also, er würde einen guten Preis erzielen. Trotzdem kniff sie die Lippen mißbilligend zusammen. Man hatte Marcus mit dem Auftrag nach Alexandria geschickt, sich um Archimedes zu kümmern. Statt dessen war er kerngesund zurückgekehrt, während die Rippen seines Herrn mehr Ähnlichkeit mit einem Waschbrett hatten.