Marcus grinste. »Ganz schön schnell!« meinte er. »Die meisten Leute brauchen ein bißchen länger, bis sie’s merken. Einige muß man sogar mit der Nase darauf stoßen. Dabei tut es das gar nicht -nicht wirklich. Schau noch besser hin.«
Wieder drehte Philyra die Maschine. Wasser lief in eine Röhre, und als die Röhre in die Höhe stieg, lief das Wasser hinunter, in die Spirale hinein und mit ihr zusammen nach oben. Sie lachte begeistert.
Marcus grinste. »Den ganzen Weg nach oben läuft es nach unten«, sagte er.
»Manchmal«, sagte Philyra, »kommt mir mein Bruder wie ein Fehler der Natur vor. Er hätte gar nicht als menschliches Wesen geboren werden dürfen. Er sollte sich als dienstbarer Geist in den Werkstätten der Götter herumtreiben. Schätzungsweise ist so eine Wasserschnecke im großen viel leichter zu drehen als eine Wassertrommel, oder?«
»Natürlich«, pflichtete Marcus bei. »Dazu braucht’s keine zwei Männer, ja nicht einmal einen. Das kann ein Kind betreiben, denn man muß ja nur die Schnecke drehen. Das Wasser läuft von selbst bergab.« Mit einem liebevollen Blick auf die Maschine hockte er sich auf die Fersen zurück. »Die Leute sind Schlange gestanden, um sie zu kaufen«, erzählte er. »Wir hätten ein Vermögen machen können!«
»Ich dachte, das habt ihr!« sagte Philyra überrascht. »Innerhalb von zwei Monaten mehr als der Bauernhof meines Vaters in einem Jahr einbringt, hat mein Bruder geasgt.«
Traurig schüttelte Marcus den Kopf. »Achtzehnhundertundacht-zig Drachmen. Genug, um unsere Schulden zu zahlen und ein Jahr angenehm in Alexandria zu leben. Aber wir hatten noch Bestellungen für weitere dreißig Maschinen - achtzig Drachmen das Stück! -und beste Aussichten auf noch viel mehr. Aber er zog es vor, Mathematik zu betreiben.«
Philyra starrte auf die Wasserschnecke und schluckte. Achtzehn-hundertundachtzig Drachmen auf einem Haufen - das überstieg ihre Vorstellung, aber noch weniger konnte sie sich vorstellen, wie man so eine Summe ausgeben konnte. Die Pacht aus dem kleinen Bauernhof der Familie brachte jährlich dreihundert Drachmen ein, inzwischen sogar weniger, weil der Weinberg verkauft worden war. Und Phidias hatte mit seinem Unterricht vielleicht noch einmal soviel verdient. Diese Wasserschlange hatte nicht nur mehr als das Gehalt ihres Vaters verdient, sondern insgesamt dreimal soviel wie das jährliche Einkommen des ganzen Haushaltes. Und das alles hatte Archimedes ausgegeben, bis auf hundert Drachmen.
Marcus verstand, warum sie plötzlich schwieg, und wünschte sich, er hätte den Mund gehalten. Verlegen rutschte er hin und her. »Alexandria ist teuer«, entschuldigte er sich, »und außerdem waren da noch die Schulden und die Kosten für die Rückreise.« Es hatte auch noch eine Frau gegeben, auf deren Konto ein schöner Batzen dieses Geldes gegangen war, aber er hatte nicht die geringste Absicht, der Schwester von Archimedes so etwas zu erzählen. »Dein Bruder war nicht so extravagant, wie’s aussieht«, fügte er statt dessen hinzu. Wenn man die Preise von Alexandria berücksichtigte, ganz zu schweigen vom Preis der besagten Frau, stimmte das auch. »Außerdem sind noch hundertsechzig Drachmen übrig.«
»Hundertsechzig?« fragte Philyra argwöhnisch. »Er hat von hundert gesprochen.«
Marcus zuckte die Schultern und grinste wieder. »Erwartest du wirklich, daß er in Geldsachen auf dem laufenden ist?«
Diesmal lächelte sie nicht, sondern starrte ihn nur kühl und prüfend an. »Das hast du doch für ihn getan, oder?«
Einen Augenblick begriff er nichts, aber dann zog er ein finsteres Gesicht. »Kein einziges Kupferstück habe ich genommen!« erklärte er empört. »Du kannst ihn fragen.«
Während Philyra seine Miene beobachtete, sah sie, wie der Ärger plötzlich in sich zusammenfiel und einer mürrischen Gleichgültigkeit wich. Es war, als ob damit noch etwas anderes versickert wäre - ein Gefühl von Freiheit, ein eigenes Ich. Plötzlich bedauerte sie ihren Argwohn. Und doch - achtzehnhundertundachtzig Drachmen! Sie konnte nicht begreifen, wie sich eine derart riesige Summe einfach in Luft auflösen konnte. Ihr tagträumerischer Bruder war ein leichtes Opfer für jede Art von Betrug.
»Nicht ein Kupferstück habe ich von seinem Geld genommen, nie«, wiederholte Marcus wütend. »Du kannst ihn fragen.«
Verbittert fiel ihm wieder ein, wie er und sein Herr vom Wasserschneckenbau im Delta nach Alexandria zurückgekehrt waren. Kaum hatte das Flußschiff angelegt, war Archimedes heruntergehüpft und hatte sich sofort Richtung Museion getrollt. Es blieb Marcus überlassen, das Gepäck in ihre Unterkunft zu schaffen. Das Gepäck - und die Schatulle mit den achtzehnhundertundachtzig Drachmen. Eine Menge Geld. Davon hätte sich Marcus gut eine Schiffspassage zurück nach Italien leisten können und dort dann obendrein noch ein Paar Ochsen, einige Schafe und ein Jahr Pacht für einen kleinen Bauernhof. Wie er so mit der schweren Truhe dahingetrottet war, war ihm schmerzhaft bewußt geworden, wie einfach eine Flucht wäre. Und dabei hätte er seinen Herrn nicht einmal mittellos zurückgelassen, denn Archimedes hätte jederzeit zurückgehen und noch ein paar Wasserschnecken bauen können. Letztendlich hatte ihn aber nicht seine Ehrlichkeit zurückgehalten, auf die er sich immer soviel eingebildet hatte, sondern pure Verzweiflung. Die Ereignisse, die ihn zum Sklaven gemacht hatten - die verlorene Schlacht, die toten Männer -, waren immer noch lebendig und ließen sich nie mehr auslöschen. Er konnte nicht mehr nach Hause, und irgendwoanders hinzugehen, schien ihm wenig sinnvoll. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er seine Sklaverei immer als einen Zustand betrachtet, der ihm gegen seine wahre Natur auferlegt worden war, aber nun zeigte sie plötzlich ihr wahres Gesicht: die unausweichliche Bedingung, an die er sein Leben geknüpft hatte.
Inzwischen merkte er, daß er sich mit einer typischen Sklavenverteidigung gegen das Mädchen wehrte: Mein Herr hat sich nicht beklagt, also hast auch du kein Recht dazu. Ärgerlich stand er auf, riß die Wasserschnecke hoch und trug sie zu ihrem Korb zurück. Philyra folgte ihm mit einer Miene, in der sich Argwohn und Entschuldigung mischten. »Vielleicht werde ich ihn fragen«, sagte sie.
»Tu das ruhig«, knurrte Marcus, während er den letzten Wasserrest aus der Schnecke auf den ungepflasterten Hof kippte.
»Inzwischen«, sagte Philyra und richtete sich kerzengerade auf, »hol alle schmutzigen Sachen aus der Truhe und leg sie zum Waschen hin. Den Rest kannst du drinnen lassen, den kann dann mein Bruder aussortieren.«
»Jawohl, Herrin«, sagte Marcus verbittert, drehte ihr den Rücken zu und begann demonstrativ, die Schnecke wegzupacken. Trotzdem spürte er, wie sie wegging, und drehte sich um, um ihr nachzusehen. Mit steifen Schritten, durchgedrücktem Kreuz und hocherhobenem Kopf ging sie schnurstracks zum Sterbezimmer ihres Vaters am Ende des Innenhofes hinüber. Sein Ärger verflog, zurück blieb nur noch Traurigkeit. Ihr Vater war krank, und ihre Mutter war aus Sorge um ihn sicher völlig außer sich. Tapfer versuchte sie eine kluge, einfühlsame Hüterin des Hauses zu sein und nicht noch eine zusätzliche Last. Wenn er ein freier Mann gewesen wäre, hätte er ihr dafür Beifall gespendet. Sie war jung und unwissend und trug keine Schuld daran, daß er ein Sklave war.
Wenige Minuten danach stolperte Archimedes die Treppe herunter. Ohne Gürtel und schief angezogen, schaffte er es, daß seine neue Tunika fast genauso unansehnlich wirkte wie diejenige, die er am Tag zuvor ausgezogen hatte. Beim Anblick des schmutzigen Wäscheberges neben der Truhe blinzelte er, als ob es sich um die Überreste eines zerbrochenen Gegenstandes handelte, den er erraten müßte.
»Ich habe deiner Schwester gesagt, sie soll die Truhe nicht selbst auspacken, weil Geschenke drin sind«, sagte Marcus rasch. »Die Geschenke sind immer noch da.«
»Ach«, erwiderte Archimedes, aber es klang, als ob die Worte nicht zu ihm durchgedrungen waren.