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Für Marcus sah er noch zerstreuter und gedankenverlorener aus als üblich. »Möchtest du die Geschenke herausholen und deiner Familie geben?« schlug er unverblümt vor. »Deine Schwester möchte die Truhe so schnell wie möglich wegschaffen.«

»Ach«, sagte Archimedes nur wieder, kam herüber und starrte in die Truhe. Marcus hatte die Geschenke schon in einer Ecke zusammengestellt: einen Krug Myrrhe für Arata, eine Laute für Philyra und eine Schatulle voller Elfenbeinplättchen für Phidias.

Archimedes beugte sich vor und hob die Schatulle hoch, die wie ihr Inhalt aus Elfenbein bestand. Sie war mit einer feinen, roten Zeichnung verziert, die den Gott Apollon und die neun Musen darstellte. Er wußte noch genau, wie er sie damals im Geschäft betrachtet und die Puzzleteile zusammengesetzt hatte. Als er sich vorstellte, wie sein Vater begeistert dasselbe tun würde, hatte er lächeln müssen. Aber jetzt würde Phidias nicht mit dem Puzzle spielen, dazu war er viel zu müde, zu krank und aufs Sterben konzentriert. Ein weiteres, ungelöstes Puzzle, dabei hatte es so viele, viele andere gegeben, die Phidias im Laufe seines Lebens nicht hatte lösen können, weil er zu beschäftigt oder zu müde war. Er hatte Geld für den Haushalt und Brot für die Kinder verdienen müssen. Er hatte Bürger, Ehemann und Vater sein müssen, erst dann konnte er Mathematiker und Astronom sein. Archimedes hatte davon profitiert. Nun betrachtete er wie betäubt die leere Hälfte in seinem Inneren. Eine Schuld war weitergegeben worden - uneinlösbar.

Sorgenvoll bemerkte Marcus, wie sein Gesicht zusammensackte und ausdruckslos wurde wie bei einem Idioten. Er berührte seinen Herrn am Ellbogen. »Du kannst es ihm immer noch geben, Herr«, sagte er, »es ist ein gutes Geschenk für einen Kranken.«

Archimedes fing lautlos zu weinen an, hob den Kopf und starrte Marcus wie blind an. »Er stirbt.«

»Das hat man mir gesagt«, gab Marcus ruhig zur Antwort.

»Ich hätte letztes Jahr zurückkommen sollen.«

Genau das hatte ihm Marcus damals immer gesagt, aber jetzt zuckte er nur die Schultern und meinte: »Jetzt bist du aber zurück. Herr, er stirbt nach einem guten Leben, im Kreise seiner ganzen Familie. Kein Mensch kann von den Göttern mehr verlangen.«

»Sein ganzes Leben hat er sich mit Resten begnügt!« antwortete Archimedes heftig. »Bruchstücke, hier und da eine gestohlene Stunde, nichts! Ach Apollon! Pegasus an einen Pflug gefesselt! Warum hat die Seele Flügel, wenn sie doch nie fliegen darf?«

Für Marcus ergab das alles keinen rechten Sinn. »Herr!« sagte er scharf. »Trag es wie ein Mann!«

Archimedes warf ihm einen erstaunten Blick zu, als ob ihn Marcus in irgendeiner unidentifizierbaren, fremden Sprache angesprochen hätte. Er hatte nichts begriffen. Trotzdem hörte er zu weinen auf und strich sich mit dem nackten Arm übers Gesicht. Verstohlen warf er einen Blick auf die Tür am entgegengesetzten Ende des Hofes, dann ging er seufzend mit der Schatulle in der Hand darauf zu. Marcus hob den Parfümkrug und die Laute auf und folgte ihm.

Arata und Phiiyra waren gemeinsam im Krankenzimmer, um den Kranken für den Tag herzurichten. Gerade hatten sie die letzten Handgriffe verrichtet. Als Phiiyra die Laute in den Händen von Marcus sah, wurde ihr Gesicht reglos, nur ihre Augen erwachten plötzlich zu einem intensiven Eigenleben. Mit einer Kopfbewegung schaute sich Archimedes nach seinem Sklaven um. Daraufhin reichte Marcus Arata mit einer Verbeugung den Myrrhekrug, verbeugte sich zum zweiten Mal und streckte Phiiyra die Laute hin. Als sie sie nahm, wurde sie rot. Mit einer zärtlichen und doch eindeutig besitzergreifenden Geste umarmten ihre Hände den Resonanzboden. Halb protestierend, halb bewundernd schaute sie ihren Bruder an und hauchte: »Medion!« Aber Archimedes hatte keine Augen für sie.

Phidias hatte sich langsam in eine sitzende Position gestemmt, um sein Geschenk entgegenzunehmen. Er hielt die Elfenbeinschatulle in seinen zittrigen Händen und betrachtete ganz genau das Bild auf dem Deckel. »Apollon und die lieblichen Musen«, stellte er mit weicher Stimme fest. »Welche ist Urania?«

Stumm deutete Archimedes darauf. Urania, die Muse der Astronomie, stand neben Apollons Ellbogen und deutete auf etwas, das vor dem Gott auf einem flachen Tisch lag - vermutlich das Puzzle. Sie trug dasselbe durchsichtige Gewand wie ihre acht Schwestern, nur ihre Sternenkrone unterschied sie von ihnen.

Phidias lächelte. »Direkt neben dem Gott«, sagte er leise. »Genau wo sie sein muß.« Er blickte zu seinem Sohn auf, in seinen gelblichen Augen lag noch immer ein strahlendes Lächeln. Sein Blick zeugte von der köstlichen Zuversicht, daß er hier endlich Verständnis finden würde. »Sie ist wunderschön, stimmt’s?« fragte er.

»Ja«, flüsterte Archimedes. Das Verständnis, das von ihm erwartet wurde, ging ihm durch und durch wie ein warmer Strom. »Ja, das ist sie.«

Als sich ihre Augen trafen, herrschte plötzlicher tiefer Friede.

3

Archimedes hielt seine Verabredung mit dem Wachsoldaten Straton ein und traf sich mit ihm am selben Abend am Flottenkai.

Die restliche Familie hatte seine Entscheidung, nicht denselben Beruf wie sein Vater zu ergreifen, genauso ruhig aufgenommen wie Philyra. Arata war sogar erleichtert, als sie merkte, daß er nach einer anderen Arbeit suchte. Sie hatte schon befürchtet, er könnte vielleicht kein Verständnis dafür aufbringen, wie notwendig Geldverdienen sei. Um sicherzugehen, daß er auch wie ein zukünftiger königlicher Ingenieur aussah, zupfte sie an ihm herum und schickte ihn schließlich frisch gebadet, rasiert und mit seiner neuen Tunika samt Mantel fort. Er versuchte es ohne Mantel - für Juni viel zu heiß! -, aber seine Mutter legte ihn ihm nachdrücklich elegant über die Schultern. »Das sieht vornehm aus«, erklärte sie ihm, »schließlich mußt du auf diesen Mann unbedingt Eindruck machen.«

»Ist doch nur ein Soldat!« protestierte Archimedes. »Er will mir doch nur erzählen, an wen ich mich wirklich wenden soll!«

»Um so mehr!« entschied Arata. »Wenn er beeindruckt ist, wird er das seinem Vorgesetzten weitergeben.«

Sie wollte ihm auch noch Marcus mitgeben, denn ein vornehmer Herr sollte sich von einem Sklaven bedienen lassen. Aber Archimedes fürchtete, sie könnten wieder auf den tarasischen Söldner Philonides treffen. Er erklärte seiner Mutter und Schwester, was im Hafen vorgefallen war.

Philyra hörte sich den Bericht mit empörtem Staunen an. Sie mußte wieder an die Prellung denken. Mit einem Seitenblick auf die unbeteiligte Miene von Marcus rief sie wütend aus: »Das ist empörend! Wir haben ein Recht, unseren eigenen Sklaven zu halten! Du hättest diesen dummen Söldner unbedingt vor einen Friedensrichter schleppen und dich beschweren sollen.«

Archimedes zuckte nur die Schultern. »Mit einem Söldner lege ich mich lieber nicht an!« sagte er mit Nachdruck. »Und bei Gericht ist alles dem Zufall überlassen, besonders in Kriegszeiten. Außerdem, ich weiß nicht, was für eine Sorte Italiener Marcus ist - du vielleicht?«

Wieder warf Philyra Marcus einen verstohlenen Blick zu, aber diesmal ganz verblüfft. Noch nie hatte sie ihn mit der neuen Großmacht im Norden in Verbindung gebracht. Sicher hatte sie gewußt, daß er Italiener war, aber in Italien hatte es immer Kriege gegeben, aus denen jedesmal einige Gefangene auf dem Sklavenmarkt von Syrakus geendet hatten. Es hatte immer genügt, sie einfach als »Italiener« zu bezeichnen, in der Annahme, daß die Sklaverei alle Unterschiede zwischen ihnen ausgelöscht hatte.

»Nun, was für eine Sorte Italiener bist du denn?« platzte sie heraus.

Marcus war vorsichtig, aus seiner Miene ließ sich nichts ablesen. »Ich bin kein Römer«, murmelte er, »römische Bürger sind nie Sklaven.« Dann fügte er verlegen hinzu: »Herrin.«

»Ist doch egal, zu welcher Sorte er gehört«, meinte Arata resigniert. »Wenn diese Frage vor Gericht aufgetaucht wäre, hätten wir endlos Schwierigkeiten bekommen, um überhaupt etwas beweisen zu können. Gerichte sollte man, wenn’s geht, meiden.« Sie klatschte in die Hände und nickte Marcus zu, der sich erleichtert ins Haus zurückzog.