Archimedes war schon auf dem Weg zur Tür, aber noch bevor er sie erreicht hatte, packte ihn Arata am Arm und zog ihn beiseite. So leise, daß es die Sklaven nicht hören konnten, sagte sie: »Mein Lieber, hast du schon mal darüber nachgedacht, ob wir Marcus verkaufen sollten?«
»Nein, natürlich nicht!« sagte Archimedes überrascht. »Wir müssen ihn doch nicht verkaufen, nur weil er Italiener ist!«
»Nicht deswegen«, flüsterte Arata und bedeutete ihm, nicht so laut zu sprechen. »Wir brauchen keine vier Sklaven, besonders seit dein Vater den Weinberg verkauft hat, und außerdem können wir es uns nicht leisten, sie durchzufüttern. Wenn wir Marcus nicht verkaufen, dann wird es Chrestos sein müssen. Sosibia können wir nicht verkaufen, nicht nach all den Jahren, und die kleine Agatha - das wäre einfach nicht richtig, mein Lieber.«
Archimedes ließ unglücklich die Schultern hängen. Jetzt begriff er. Seine Mutter wollte, daß er sich auf der Stelle nach einem guten Käufer für einen der Sklaven umsah. Die Entscheidung, wer wohin verkauft werden sollte, lag allein bei ihm. Es wäre einfach nicht richtig, solch eine Entscheidung seinem Vater aufzubürden, nicht unter diesen Umständen, und Frauen waren nicht rechtsfähig.
Im Grunde genommen wollte er niemanden verkaufen. Marcus würde es hassen, dachte er geistesabwesend. Er würde es wirklich hassen, egal, wer der Käufer wäre. Er mochte Marcus und verließ sich auf ihn. Eine solche Demütigung konnte er ihm unmöglich antun. Aber Chrestos - er wußte noch genau, wie er Chrestos als neugeborenes Baby im Arm gehalten hatte. Wie konnte er für ein Mitglied seiner Familie Geld nehmen? Das war das ganze Geld nicht wert. Er haßte es, sich zur schönsten Zeit den Kopf über Geld zu zerbrechen.
»Das eilt doch nicht!« protestierte er schließlich. »Das Geld, das ich aus Alexandria mitgebracht habe, wird uns ein bis zwei Monate reichen, und danach kann alles passieren. Im Maschinenbau steckt eine Menge Geld. Wir könnten alle reich werden! Es wäre dumm, Leute zu verkaufen, wenn wir’s nicht müssen.«
Arata seufzte. Vielleicht wurden ja einige Leute vom Maschinenbau reich, aber nicht ihr Sohn, das glaubte sie einfach nicht. Dazu war er viel zu weltfremd und weichherzig. Genau wie sein Vater. Und sie konnte sich nicht einmal darüber beklagen, denn schließlich war es eine Eigenschaft, die sie an ihnen liebte. Trotzdem mochte sie harte Entscheidungen nicht aufschieben, schon gar nicht in so unsicheren Zeiten. »Wenn wir warten, bis wir hungrig sind«, belehrte sie ihn gelassen, »müssen wir den erstbesten Käufer nehmen. Aber wenn wir jetzt verkaufen, können wir ihnen ein gutes Zuhause suchen.«
Archimedes rutschte unbehaglich hin und her. »Können wir nicht wenigstens abwarten, ob ich diese Arbeit bekomme?« bat er.
Wieder seufzte seine Mutter, aber diesmal resigniert. Auch sie wollte ja im Grunde keinen der Haussklaven verkaufen, und außerdem hatten sie wirklich noch ein paar Monate Gnadenfrist. Sie nickte. Erleichtert seufzte ihr Sohn auf.
Philyra war auf der Schwelle stehengeblieben und hatte dem Gespräch zugehört. Jetzt ging sie in den Innenhof des Hauses zurück, wo Marcus gerade die Wäsche seines Herrn abnahm. Eine Minute lang musterte ihn Philyra und fragte sich dabei zum ersten Mal verwundert, was er vor seiner Sklavenzeit gewesen war. An die Zeit ohne ihn im Haushalt hatte sie keine klare Erinnerung. Er war schon immer dagewesen.
Früher am Tag hatte sie ihrem Bruder gegenüber tatsächlich ihre Vermutungen über ihn geäußert, aber Archimedes hatte sie sofort zerstreut. »Marcus?« hatte er gemeint. »Oh, nein! Er findet, diebische Sklaven verdienen die Peitsche und nicht nur Stockhiebe. Er ist doch so stolz auf seine Ehrlichkeit. Nein, nein, Marcus kann ich ein Vermögen anvertrauen.« Jetzt hatte er dieses Vertrauen noch unterstrichen, indem er sich weigerte, über einen Verkauf des Sklaven auch nur nachzudenken.
Aber das Problem blieb: Er hatte Marcus ein Vermögen anvertraut, und sie konnte sich noch immer nicht vorstellen, wie sich ein solches Vermögen innerhalb eines Jahres ohne Betrügerei in Luft auflösen konnte. Irgend jemand mußte schuld daran sein. Dank Archimedes und seinem Vertrauen hatte sie jetzt auch noch Schuldgefühle wegen ihrer eigenen Verdächtigungen.
Der Sklave spürte ihre Blicke auf sich und drehte sich mit sanft fragendem Gesicht mit dem Arm voller Wäsche zu ihr um. Wie zum ersten Mal fiel ihr dabei die schiefe Einkerbung auf, wo er sich die Nase gebrochen hatte. Sie überlegte, wie und wann das passiert war. »Was für eine Sorte Italiener bist du?« fragte sie ihn wieder.
Er atmete tief und lange aus und wandte den Blick ab. »Herrin.«, setzte er an, dann riß er hilflos die Hand hoch und schlug auf das Leinen. »Herrin, ich bin ein Sklave, der Sklave deines Bruders. Das ist die Wahrheit, das weißt du. Alles, was ich sonst gesagt habe, könnte gelogen sein.«
Nüchtern starrte sie ihn an. »Wann hast du dir die Nase gebrochen?«
Vorsichtig legte er die Wäsche auf einem umgedrehten Waschzuber ab, dann wandte er sich zu ihr um und beantwortete ihre letzte Frage: »Vor langer Zeit, Herrin. Bevor ich nach Sizilien kam.«
Ein Soldat hatte sie ihm im ersten Jahr seiner Sklaverei gebrochen. Er hatte sich gewehrt, als ihn der Mann vergewaltigen wollte, und war dafür bewußtlos geprügelt worden. Als er wieder aufgewacht war, hatte er sich zu Füßen des Soldaten und jenes kampanischen Sklavenhändlers wiedergefunden, der ihn an den Soldaten verkauft hatte. Soldat und Sklavenhändler hatten miteinander gestritten, ob der Soldat sein Geld zurückbekommen mußte. »Schau, was du mit seinem Gesicht angerichtet hast!« hatte der Sklavenhändler gejammert. »Wer wird ihn jetzt noch wollen?« Und Marcus war mit dem Mund voller Blut und Schmerzen am ganzen Leib dagelegen und hatte nur gehofft, daß ihn jetzt niemand mehr haben wollte. Er konnte sich nicht vorstellen, daß er noch einmal in der Lage wäre, so heftig Widerstand zu leisten. Das nächste Mal würde er nachgeben und sich selbst zur Hure machen. Damals war er siebzehn gewesen.
»Ist es in der Schlacht passiert?« fragte Philyra.
Marcus schüttelte den Kopf, faltete die letzte Tunika zusammen, legte sie oben auf die anderen und hob den ganzen Stapel auf. »Nur eine Rauferei.«
»Aber du hast doch gekämpft. Schließlich bist du nach einer Schlacht versklavt worden.«
»Ja«, bestätigte er, wobei sich ihre Augen trafen. »Ich war bei einer Schlacht dabei. Wir haben verloren.«
Einen Augenblick hing Philyra stumm ihren Gedanken nach. Gedanken über den Krieg im Norden und die ungewisse Freiheit von Syrakus. Sie schüttelte den Kopf, was Marcus als Zeichen dafür deutete, daß er entlassen war. Mit einem Kopfnicken kletterte er mit seinem sauberen und trockenen Wäscheberg die Treppe hinauf.
Es war schon dämmerig, als Archimedes am Seetor ankam. Selbst wenn der Taraser mit Straton Wache geschoben haben sollte, so hatte er sich inzwischen getrollt, denn Straton lehnte allein an der Innenseite der Stadtmauer. Er hatte sich den Schild halb über die Brust gezwängt, ein Bein gegen den schräggestellten Speer gestützt. Beim Anblick von Archimedes richtete er sich auf und schob den Schild wieder auf den Rücken. »Da bist du ja!« sagte er erleichtert. »Als ich mit deiner Frage die Runde machte, zeigte sich mein Hauptmann interessiert. Seiner Meinung nach werden mehr Ingenieure gebraucht, sowohl bei der Armee wie für die Stadt. Er möchte unbedingt mit dir reden und erwartet uns in der Arethusa. Einverstanden?«
Archimedes blinzelte und dankte innerlich seiner Mutter, daß sie auf dem Mantel bestanden hatte. »F-fein!« stotterte er hastig. Vermutlich hatte Stratons Hauptmann während der Abwesenheit des restlichen Heeres den Oberbefehl über die Garnison von Syrakus. Wenn er wollte, konnte er dafür garantieren, daß man Archimedes eine Stelle anbot.