»Was ich meinte«, unterbrach ihn Dionysios unverblümt, »war, ob du weißt, wie man ein Katapult baut?«
»Übrigens, was ist eigentlich ein Peritret?« erkundigte sich Straton.
Archimedes schaute vom einen zum anderen. »Habt ihr denn eine Ahnung von Katapulten?« fragte er.
»Ich nicht!« erklärte Straton fröhlich.
»Ein wenig«, sagte Dionysios, »das Peritret ist der Rahmen, Straton.«
»Das Ding, wo die Arme einmünden?«
Archimedes tauchte einen Finger in den Wein und skizzierte auf dem Tisch das Peritret eines Torsionskatapults: zwei parallele Holzbretter, die durch Streben voneinander getrennt sind. Dann zeichnete er die beiden Bohrlöcher an den jeweiligen Rahmenenden ein. Aus dem oberen Loch lief eine Reihe gedrehter Sehnen nach unten. Jedes Sehnenbündel faßte einen der Arme, die nach beiden Seiten vom Rahmen wegführten. Das ganze Katapult erinnerte mehr an einen überdimensionalen Bogen, der waagrecht dalag und in der Mitte ein Loch hatte, durch das die Wurfgeschosse austreten konnten. Von einer Armspitze zur anderen lief eine dicke Bogensehne, und unter dem Schwerpunkt des Rahmens war ein Balken mit einem Schlitten angebracht, der das Wurfgeschoß faßte.
Die beiden Soldaten beugten sich über den Tisch und musterten kritisch die Skizze. Wieder kam der Kellner, um die Becher aufzufüllen, und beäugte mißbilligend den verschmierten Tisch, aber ein rascher Blick von Dionysios hinderte ihn am Abputzen.
»Also, wo liegt jetzt der kritische Punkt?« fragte Dionysios.
Archimedes tippte auf die Bohrlöcher. »Die gesamte Wucht des Katapultes liegt in den Sehnen«, sagte er. »Ihre Verwindung läßt die Katapultarme nach dem Zurückziehen vorwärtsschnellen. Je dicker das Sehnenbündel, um so mehr Wucht hat es und um so schwerer können die Geschosse sein. Je größer der Durchmesser des Bohrloches ist, in dem die Sehnen verlaufen, um so wirkungsvoller das Katapult.«
»Und welche Wirkung könnte ein Katapult haben, das du höchstpersönlich baust?«
Archimedes blinzelte zögernd. Mit dieser Frage schien Dionysios den springenden Punkt seiner Erklärung verfehlt zu haben. »In der Theorie gibt es keine Grenze!« protestierte er. »Das wirkungsvollste Katapult, das ich je untersucht habe, war ein ägyptischer Ein-Talenter, aber.«
»Ein-Talenter?« unterbrach ihn Dionysios begeistert. »Du könntest einen Ein-Talenter bauen?« Katapulte mit Steingeschossen wurden nach dem Gewicht der Geschosse, die sie schleudern konnten, eingeteilt. Ein Talent - ungefähr sechsundzwanzig Kilo - entsprach offiziell dem Gewicht, das ein Mensch tragen konnte. Normalerweise bildete der Ein-Talenter das wirkungsvollste Katapult in der Waffenkammer einer Stadt. Ab und zu hatten außergewöhnliche Ingenieure für große Könige ein paar größere Maschinen konstruiert, aber normalerweise waren selbst Ein-Talenter selten. Viele Städte hatten nichts schwereres als einen Fünfzigpfünder.
»Natürlich!« bestätigte Archimedes. »Oder noch einen größeren, aber dafür braucht man spezielle Lade- und Zugvorrichtungen.«
Straton schaute drein, als ob er sich immer weniger wohl in seiner Haut fühlte. Jetzt räusperte er sich und sagte ängstlich: »Herr - gestern hat er noch erzählt, er hätte noch nie eine Kriegsmaschine gebaut.«
Dionysios warf Archimedes einen überraschten und zugleich empörten Blick zu.
»Man muß keines gebaut haben, um zu wissen, wie’s geht!« erklärte Archimedes, um sich gegen den unausgesprochenen Vorwurf der Täuschung zu verteidigen. »Dafür muß man nur das mechanische Grundprinzip begriffen haben. Und das habe ich. Ich werde ein bißchen länger brauchen als ein erfahrenerer Ingenieur, aber ich kann ein funktionierendes Katapult herstellen.«
Dionysios schaute ihn nur noch länger an. Er war nicht überzeugt.
»Schau«, meinte Archimedes, »du mußt mir auch nichts bezahlen, bis ich ein funktionierendes Katapult hergestellt habe.«
Dionysios riß die Augenbrauen hoch. »Einen funktionierenden Ein-Talenter?« fragte er.
»Wenn du das möchtest, und wenn du genügend Holz und Sehnen dafür hast. Du weißt ja, das wird ein Riesending, ja?«
»Natürlich«, pflichtete Dionysios bei, »der König hat so einen in Messana, und der ist knapp sechs Meter breit.« Wieder musterte er Archimedes einen Augenblick, aber inzwischen äußerst nachdenklich, denn er wußte nicht recht, ob er einen Schatz oder einen Narren gefunden hatte, der sich in die eigene Tasche log. Andererseits konnte er sich mit dieser Entscheidung getrost Zeit lassen, wenn kein Geld die Taschen wechseln mußte, bis ein Katapult vollendet war. Er widmete sich wieder seinem Essen. »Als die Armee zur Belagerung von Messana aufbrach«, erzählte er, »hat König Hieron einen seiner Ingenieure in der Stadt zurückgelassen, Eudaimon, den Sohn des Kallikles. Er wollte sichergehen, daß alle Wachttürme der Stadtmauer mit der nötigen Sollstärke an Katapulten ausgestattet werden. In der Hauptsache ging’s ja nur darum, die Sehnen zu erneuern, aber es müssen auch einige neue Maschinen gebaut werden. Ein paar alte sind völlig kaputt, und einige Wachttürme wurden noch nie mit Katapulten bestückt. Eudaimon hat zwar keine Schwierigkeiten, Pfeilkatapulte zu bauen, aber bei den Steinschleudern ist er nicht so gut. Leider besteht der König am meisten auf Steinschleudern, und ganz besonders auf die wirklich großen. Wenn du da ein paar zustande bringst, ist dir deine Stelle sicher.«
»Ich kann Steinschleudern bauen«, sagte Archimedes glücklich. »Wann soll ich anfangen?«
»Komm morgen früh zum Königspalast auf der Zitadelle«, antwortete Dionysios. »Ich werde dich dem Regenten Leptines vorstellen, der wird die Bedingungen für deine Anstellung genehmigen. Aber ich warne dich: Ich werde dich und dein Angebot beim Wort nehmen und empfehlen, daß man dich erst dann bezahlt, wenn dein erstes Katapult funktioniert und abgenommen wurde.«
Archimedes lächelte. »Danke schön!« rief er mit einem Seitenblick auf seine Tischplattenskizze. Plötzlich war er innerlich ganz aufgeregt. Ohne umsichtige Planung würde aus einem Ein-Talenter für Steingeschosse ein unhandliches Objekt. Das war etwas Neues, etwas wirklich Interessantes. Er wischte mit seiner Serviette die Zeichnung ab, tauchte den Finger erneut in den Weinbecher und fing zu rechnen an.
Die beiden anderen beobachteten ihn einen Moment lang, dann warf Dionysios Straton einen Blick zu und zog die Augenbrauen hoch.
Straton schaute bedrückt zurück.
»Was ist los?« fragte der Hauptmann.
»Schätzungsweise habe ich eine Wette verloren«, antwortete der Soldat.
Dionysios schaute erst ihn an und dann den inzwischen völlig versunkenen Archimedes. Er konnte sich denken, worum die Wette ging, und - lachte. »Nimm’s leicht!« meinte er tröstend. »Dein Verlust wird der Gewinn der Stadt. Und außerdem haben sie hier Flötenspielerinnen, die dich über noch viel schwereren Kummer trösten.« Er klatschte in die Hände, und der Kellner, der schon die ganze Zeit ungeduldig draußen vor der Tür gestanden hatte, kam ins Zimmer, trug die Teller ab und dirigierte die Flötenspielerinnen herein.
Im Haus am Löwenbrunnen wartete Philyra auf ihren Bruder. Phidias war in seinem Krankenzimmer schon früh in einen unruhigen Schlummer gefallen. Arata hatte sich für eine Matratze auf dem Boden neben ihrem Mann entschieden, wo sie schnell wach wurde, falls er sie während der Nacht brauchte. Die Sklaven begaben sich in den heißen Oberstock hinauf, wo sie im hinteren Teil des Hauses ein Zimmer teilten. Nur Philyra ging mit der breithalsigen Laute, dem Geschenk ihres Bruders, in den Innenhof hinaus, setzte sich auf die Bank neben der Tür und begann, vorsichtig an den Saiten zu zupfen.