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Lauten waren für die Griechen vergleichsweise neue Instrumente, die bis zu den Feldzügen Alexanders des Großen unbekannt gewesen waren. Philyra hatte schon einmal eine gesehen, aber noch keine selbst in den Händen gehalten. Es war das schönste Geschenk, das sie je bekommen hatte: ihre eigene Laute, und noch dazu ein ungewöhnlich schönes Instrument mit einem Schallkasten aus poliertem Rosenholz und einem Griffbrett mit Muschelintarsien. Obendrein hatte sie einen vollen, lieblichen Klang.

Philyra zupfte der Reihe nach jede der acht Saiten, dann drückte sie alle zusammen ganz oben am Griffbrett nieder und schlug sie erneut an. Vor Begeisterung verschlug es ihr den Atem. Sie war eine gute Kitharaspielerin und wußte, daß man den Ton einer Saite erhöht, indem man sie mit dem Finger aufs Griffbrett drückt. Allerdings galt dies auf der Kithara als virtuoses Kunststück, das nicht allzuoft eingesetzt werden konnte. Die Laute versprach eine ganz neue musikalische Dimension.

Die ganze Familie war schon immer musikalisch gewesen. Seit sich Philyra erinnern konnte, hatten Arata und Phidias beinahe jeden Abend zusammen musiziert, er auf der Kithara, sie auf der Lyra. Als Archimedes älter wurde, hatte er sie meistens auf den Auloi begleitet, einer paarweise angeordneten, weich klingenden Holzflöte. Und als Philyra soweit war, ein Instrument zu lernen, hatte auch sie sich an den Konzerten beteiligt. Manchmal hatte die Familie stundenlang bis spät in die Nacht hinein gespielt. Einer hatte eine Melodie intoniert, die von den anderen aufgenommen, verändert und wieder zurückgegeben wurde. Oft hatte sich Philyra die Musik als Idealbild der Welt vorgestellt, in dem die besten Dinge aus der realen Welt versammelt waren, nur klarer, stärker und ergreifender. Da war die Beständigkeit ihrer Mutter, die ihrem gemeinsamen Leben Balance und Rhythmus gab. Da die träumerische Zärtlichkeit ihres Vaters und seine urplötzlich übersprudelnde Begeisterung. Und da war ihr Bruder, aber ganz anders als meistens im Gespräch, kein Träumer, sondern ein so gnadenlos präziser Mensch, daß einem fast schon bange wurde. Meistens konnte sie ihm nur mit Mühe folgen, so tiefgründig und kompliziert war sein Spiel, aber am Ende löste er seine musikalischen Knoten immer in eine zärtlich einfache Melodie auf. Als er nach Alexandria ging, hatte sie sich ein wenig an den Auloi versucht, war aber dann doch wieder bei ihrer Lyra und der Kithara gelandet. Ein flötespielendes Mädchen galt als leicht anrüchig, und außerdem konnte sowieso niemand so spielen wie Medion.

Sie hatte ihn vermißt und war wütend gewesen, daß er nicht nach Hause kam, als man es von ihm erwartet hatte. Als schließlich ihr Vater krank wurde, hatte sich ihre Wut noch gesteigert. Aber jetzt war er wieder da, und allmählich schmolz auch ihr Groll. Hoffentlich kam er recht bald von seinem Umtrunk mit dem Soldaten zurück, damit sie noch ein bißchen zusammen musizieren konnten.

Ungefähr eine Stunde experimentierte sie auf der Laute herum, dann wurde sie von der enormen Konzentration müde, brachte das Instrument in ihr Zimmer und kam statt dessen mit ihrer alten Kithara zurück. Mühelos ließ sie mit der linken Hand eine langsame, zarte Melodie erklingen, während sie dazu mit dem Piektrum in der rechten Hand ab und zu Begleitakkorde anschlug.

»Weißt du noch«, sang Philyra mit ihrer tiefen Stimme, die mit den Saitenklängen verschmolz, »weißt du noch, als ich zu dir dies heilig’ Wort gesagt?

>Die Zeit ist süß, doch schnell vorbei, kein Flügelschlag sie je erreichte Sieh her! Sie liegt im Staub, die Blume dein<.«

Sie war sehr gut, dachte Marcus, der lauschend am Fenster stand. Aber das war nichts Überraschendes. Schon vor seiner Abreise hatte sie gut gespielt, und während der drei Jahre war sie noch besser geworden.

Hinter ihm hatte sich Chrestos auf der gemeinsamen Pritsche zusammengerollt, während Sosibia hinter einem Vorhang ein zweites Bett mit ihrer Tochter teilte. Er konnte nicht schlafen, und so stand er da, schaute in den dunklen Innenhof hinunter und lauschte der Musik.

Beim Eintritt in den Haushalt hatten ihn die nächtlichen Konzerte verwirrt, denn bei ihm zu Hause hatte es nicht viel Musik gegeben. Seine Mutter hatte manchmal während der Arbeit gesungen und er mit seinen Brüdern draußen auf dem Feld, aber im übrigen war Musik etwas gewesen, wofür man andere bezahlte. Er mochte Musik und hatte immer, wenn er Geld hatte, einen Musikanten bezahlt. Jetzt konnte er sich Musik nicht leisten und bekam sie doch die ganze Zeit umsonst. Zuerst hatte er sich über die Freude geärgert, die er dabei empfand. Wertete er nicht seine eigene Persönlichkeit ab, wenn er irgendeinen Aspekt seines Sklavendaseins genoß? Aber allmählich hatte er sich an die ständige Gegenwart von Musik gewöhnt und wurde für ihre Strukturen und Untertöne immer sensibler. Beinahe hatte er schon vergessen, wie ein Leben ohne sie war.

Philyra sang weiter. Klar und lieblich stieg ihre Stimme in die Dunkelheit empor. Alte Volkslieder, neue Gesänge von den Königshöfen, Liebeslieder und Hymnen an die Götter. Stumm stand Marcus am Fenster, lauschte und betrachtete die Sterne über den Dächern von Syrakus. Nach einer Weile hörte sie zu singen auf und spielte nur noch, wobei sie die Melodie von der rechten Hand in die linke wandern ließ und wieder zurück. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Schlafzimmerwand und hörte weiter zu und grübelte darüber nach, warum Notenakkorde so viel mehr ausdrücken können als jede menschliche Zunge.

Schließlich brach Philyra gähnend ab und blieb mit der Kithara im Schoß still sitzen. Marcus stand schnell auf, weil er sehen wollte, wenn sie fortgging, aber sie blieb. Da begriff er, daß sie auf ihren Bruder wartete und inzwischen zur eigenen Unterhaltung gespielt hatte. Er zögerte, sich ihr zu nähern. Er hatte Bedenken. Aber was konnte es einem Haussklaven schaden, wenn er ihr riet, zu Bett zu gehen? Er drehte dem Fenster den Rücken zu, schlich leise aus dem Zimmer, um Sosibia nicht zu stören, und die Treppe hinunter.

»Herrin?« rief er, als er den Innenhof betrat. Trotz der Dunkelheit sah er, wie sie aufsprang.

»Was willst du?« rief sie. Sie hatte ihn verdächtigt, und aus Schuldgefühl bekam ihre Stimme einen scharfen Unterton.

Marcus blieb wenige Schritte von ihr entfernt stehen. Im Dunkeln war sein Gesicht nicht zu erkennen. »Herrin, bleib nicht die ganze Nacht auf«, sagte er freundlich. »Vielleicht kommt dein Bruder erst in Stunden heim.«

Sie stieß einen ungeduldigen Laut aus. »Aber er muß doch bald wieder da sein! Er ist doch schon stundenlang weg!«

»Vermutlich spendiert er diesem Mann noch ein nächtliches Vergnügen. Das heißt, daß er vielleicht erst um Mitternacht da sein wird. Du hast keinen Grund, aufzubleiben. Ich werde ihm die Tür aufmachen, wenn er kommt.«

Die Nacht konnte Philyras Stirnrunzeln verbergen, aber nicht den Argwohn in ihrer Stimme, als sie sagte: »Aber früher hat er doch auch nicht bis nach Mitternacht getrunken!«

Du Unschuldslamm! dachte Marcus liebevoll. Wie konnte sie auch nur im entferntesten annehmen, daß sich Archimedes an seine früheren Stundenpläne halten würde, nachdem er drei Jahre allein in einer Stadt verbracht hatte, die für ihren Luxus bekannt war! »In Alexandria war er oft noch spät weg«, erzählte er ihr. »Und wenn er sich die Unterstützung dieses Mannes sichern will, dann muß er sich heute abend nach dessen Wünschen richten, egal, was es ist. Wahrscheinlich ist es ein gutes Zeichen, daß er so spät dran ist. Die Gelegenheit scheint günstig.«

Einen Augenblick sagte Philyra gar nichts. Sie redete sich ein, Marcus wolle damit andeuten, daß sich ihr Bruder in Alexandria einen kostspieligen Lebenswandel angewöhnt hatte und hier, laut Marcus, der Grund für das verschwundene Geld zu suchen sei. »Was hat er denn so spät in Alexandria noch gemacht?« fragte sie schließlich mit schriller Stimme. Eigentlich wollte sie die Wahrheit gar nicht wissen, andererseits wäre es unfair, Marcus weiter zu verdächtigen, ohne zu wissen, was er dazu zu sagen hatte.