Aber die Antwort kam sofort und in sanftem Ton: »Nichts, worüber du dir den Kopf zerbrechen müßtest, Herrin. Er hatte viele Freunde, die beieinander saßen, tranken, sich unterhielten und -musizierten, die ganze Nacht lang. Wenn am anderen Tag keine Vorlesung war, ging das bis Sonnenaufgang.«
Es klang noch immer nicht wie ihr Bruder. Er hatte doch noch nie gerne getrunken oder geplaudert, und enge Freunde hatte er auch nie gehabt. Sie versuchte, sich eine Frage auszudenken, mit der sie Marcus bei einer Lüge ertappen konnte, aber im selben Moment klopfte es kurz an die Haustür.
Marcus öffnete, und Archimedes stolperte herein. Er roch nach Wein.
Er war nicht bis zum unvermeidlichen Abschluß des Abends in der Arethusa geblieben. Der nahe Tod seines Vaters hatte seine Lust schrumpfen lassen, und außerdem hatten die Flötenmädchen der Arethusa trotz ihrer anderweitigen Talente ihr Instrument nicht sonderlich gut beherrscht. Schon beim Zuhören hatten sich ihm die Haare gesträubt.
Unter anderen Umständen hätte er sich vielleicht selbst zum Spielen angeboten und die Mädchen nur tanzen lassen, aber mit diesem Angebot hätte er nur äußerst anzügliche Bemerkungen provoziert. So hatte er seine Berechnungen gemacht, bis seine Zechkumpane gut versorgt waren, dann unter ausführlichen Entschuldigungen die Rechnung bezahlt und war nach Hause gegangen.
»Kannst du mir eine Lampe holen?« fragte er Marcus atemlos, wobei er sich den verwelkten Petersilienkranz des Flötenmädchens noch weiter auf den Hinterkopf schob. »Ich muß unbedingt etwas aufschreiben.«
Philyra sprang auf und umarmte ihn, aber er schüttelte sie schnell ab. »Vorsicht!« rief er. »Du verschmierst ja alles!«
Marcus trollte sich schnaubend.
»Was verschmieren?« wollte sie wissen.
»Ein paar Rechnungen, die ich gemacht habe. Marcus! Hast du auch was zum Schreiben?«
»Du hast Rechnungen gemacht?« fragte Philyra verblüfft.
Er nickte. Im Schein der Lampe, mit der Marcus zurückgekommen war, konnte man die Kopfbewegung erkennen. Archimedes hielt seinen linken Ärmel, der voller Ziffern war, zum Licht hin. Er hatte sie mit Kerzenruß notiert.
»Medion!« rief Philyra entsetzt. »Dein neuer Mantel ist ja völlig verschmiert!«
»Keine Angst«, meinte er treuherzig, »ich kann ’s noch lesen.«
Weil Marcus nichts zum Schreiben mitgebracht hatte, nahm Archimedes das Waschbrett, suchte sich einen Kreidebrocken und begann, die Ziffern von seinem Ärmel abzuschreiben. »Sobald ich ein kleineres Katapult sehen kann, werde ich die meisten korrigieren müssen«, erklärte er den beiden, während er eifrig schrieb. »Einen Großteil der Maße konnte ich nicht vergrößern, weil ich sie nicht mehr genau im Kopf hatte, aber das hier müßte eigentlich reichen, damit ich schon mal das Holz bestellen kann. Damit geht’s dann schneller.«
»Du hast also den Auftrag«, stellte Marcus befriedigt fest. Geistesabwesend nickte Archimedes und begutachtete stirnrunzelnd seine Kreiderechnungen.
»Und ich dachte, der Mann, mit dem du dich heute abend getroffen hast, wäre nur ein einfacher Soldat!« rief Philyra.
»Oh«, meinte ihr Bruder zerstreut, »ja. Aber er hatte sich schon mal umgehört, mit wem ich reden sollte, und da hat mich sein Hauptmann sehen wollen. Sie brauchen wirklich Ingenieure. Ich soll Steinschleudern bauen, zuerst einen Ein-Talenter.«
»Und was bringt das ein?« wollte Marcus wissen.
»Hm? Müssen wir noch besprechen. Nichts, bis das erste Katapult fertig ist. Aber zur Zeit scheint niemand in der Stadt in der Lage zu sein, große Steinschleudern zu bauen. Und der Hauptmann meinte, daß der Tyrann gerade darauf am meisten Wert legt.« Stolz fügte er hinzu: »Also wird’s meiner Meinung nach schon in Ordnung gehen. Ich treffe mich deswegen morgen früh mit dem Regenten Leptines.«
»Oh, Medion!« rief Philyra, die nicht recht wußte, ob sie begeistert oder verzweifelt sein sollte. »Du mußt mir sofort deinen Mantel geben. Schließlich kannst du nicht voller Ruß zum Regenten gehen!«
»Aber du kannst doch nicht zu dieser nachtschlafenden Zeit zu waschen anfangen!« protestierte Marcus.
Archimedes warf einen schiefen Blick nach oben und blinzelte. Endlich hatte er begriffen, daß seine Schwester auf ihn gewartet hatte. »Philyrion, mein Schatz«, sagte er streng, »du solltest längst im Bett sein.« Dann bemerkte er, daß sie die Kithara festhielt, und fügte hinzu: »Zum Musizieren ist es jetzt sowieso zu spät, aber morgen abend können wir ein Konzert veranstalten.«
»Zur Feier deiner neuen Anstellung!« meinte Philyra, wobei sie glücklicherweise den Zustand seines Mantels vergaß. »Mama und Papa werden ja so froh sein!«
Am nächsten Morgen berichtete Archimedes seinen Eltern von seinem Erfolg. Wie es seine Schwester erwartet hatte, waren sie hocherfreut. Nachdem sie aber auf die ersten Fragen bezüglich der Bezahlung keine Antwort bekamen, erkundigte sich Phidias wehmütig: »Wirst du dann noch viel Zeit zum Studieren haben?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Archimedes verlegen. Er wollte seinem Vater gegenüber nicht zugeben, daß er künftig sein Gelehrtendasein nur noch als Randepisode im Leben betrachtete. »Wahrscheinlich - wahrscheinlich die nächste Zeit nicht sehr viel, Papa. Wegen dem Krieg. Aber ich werde mein Möglichstes tun, damit mir immer noch Zeit für Gespräche mit dir bleibt, ganz bestimmt.«
»Oi moi, der Krieg!« seufzte Phidias. »Ich bete darum, daß unser König recht bald einen Ausweg für uns findet. Das wird ein schlimmer Krieg, mein Archimedion, ein sehr schlimmer. Unsere schöne Stadt gleicht einer Taube, die man mit zwei Kampfhähnen in die Arena gesperrt hat. Wenigstens bin ich froh, daß ich das alles nicht mehr mitansehen muß. Mein lieber Junge, du mußt dich an meiner Stelle um deine Mutter und deine Schwester kümmern!«
Archimedes ergriff die zittrige Hand seines Vaters. »Das werde ich«, versprach er ernst. »Trotzdem hoffe ich, Papa, daß König Hieron einen Ausweg findet. Man sagt, er wäre ein weiser Mann. Vielleicht bringt er uns doch noch den Frieden.«
»Ein guter Herrscher war er ja«, räumte Phidias, wenn auch zögernd, ein. Er hatte immer die unruhigen Demokratiebestrebungen der Stadt unterstützt. Aber selbst Hierons Feinde mußten zugeben, daß er ein guter Herrscher war. Vor elf Jahren war er in einem unblutigen Militärstreich an die Macht gekommen und hatte seither ausgewogen, menschlich und strikt nach dem Gesetz regiert. Sehr zur Verwunderung aller Bürger, die von einem Tyrannen kein derartiges Verhalten erwarteten.
»Ja, ich bete, daß du recht hast«, fuhr Phidias fort, dann lächelte er seinen Sohn an. »Ich bin froh, daß du wieder da bist«, meinte er zärtlich. »Mir wurde immer angst und bang bei dem Gedanken, was mit dem Haus passiert, wenn es in Kriegszeiten ohne Oberhaupt ist. Und nun, mein Kind, denkst du dir eine Waffe aus, um unsere Feinde zu zerstören. Und vergewissere dich ja, daß du dafür einen guten Preis bekommst!«
»Jawohl, Papa.« Archimedes gab seinem Vater einen Kuß auf die Stirn, küßte auch seine Mutter, die sich um den Kranken kümmerte, und trat dann in den Innenhof hinaus.
Dort versuchte Philyra gerade vergeblich, seinen Mantel zu reinigen. Sie hatte ihn gebürstet und ausgeklopft und kochendes Wasser darüber geschüttet. Leider hatte sie damit nur erreicht, daß sich der fettige Lampenruß noch tiefer im Gewebe ausbreitete. Besorgt rollte sie beim Anblick ihres Bruders die Augen. »Leider mußt du etwas anderes anziehen«, erklärte sie ihm.
»Ist sowieso zu heiß für einen Mantel«, antwortete er.
Am Fuß der Treppe tauchte Marcus mit einem alten Mantel aus schlichtem, ägyptischem Leinen auf. »Der hat aber Weinflecken!« fauchte ihn Philyra ungeduldig an.
»Aber wenn man den Saum geschickt darüberfaltet, sieht man’s nicht«, antwortete Marcus, der seinen Vorschlag gleich in die Tat umsetzte.