Er mußte von etwas Bekanntem ausgehen. Die größtmögliche, benennbare Zahl war eine Myriade Myriaden. Na schön, dann war eben das eine neue Einheit. Myriade wurde als M geschrieben, also könnte dies ein unterstrichenes M sein: M. Aber wie viele davon brauchte er?
Plötzlich fiel ein Schatten über die leere, weiße Fläche vor ihm, und von hinten tönte es verdrießlich: »Archimedes?«
Der junge Mann nahm seinen Zirkel aus dem Mund und drehte sich mit einem strahlenden Lächeln um. Mit seiner schmalen, eckigen Figur und den schlaksigen Armen und Beinen sah er aus wie ein Grashüpfer kurz vor dem Sprung. »Das macht zusammen einhundertzwanzig Myriaden von Myriaden!« rief er triumphierend, strich eine zerzauste, braune Haarsträhne zurück und musterte den Störenfried aus glänzend braunen Augen.
Der Mann hinter ihm - er war ein wenig älter und kräftig gebaut, hatte schwarze Haare und eine gebrochene Nase - stieß einen Stoßseufzer aus. »Herr«, meinte er, »wir laufen schon in den Hafen ein.«
Aber Archimedes hörte gar nicht hin, er hatte sich bereits wieder der Sandschatulle zugewandt. Also gab es keine Zahl, die so groß war, daß man sie nicht mehr benennen konnte! Und wenn schon eine Myriade Myriaden eine Einheit bilden konnten, warum sollte man damit aufhören? Sobald eine Myriade Myriaden Myriaden Myriaden erreicht war, konnte man das ja als ganz neue Einheit bezeichnen und von da aus weitermachen! Siegreich schwebte sein Verstand über dem erregenden Gebiet der Unendlichkeit. Er schob sich den Zirkel wieder in den Mund und biß begeistert darauf herum. »Marcus«, meinte er erwartungsvoll, »was ist die größte Zahl, die du dir vorstellen kannst? Die Anzahl der Sandkörner in Ägypten - nein, auf der ganzen Welt! Nein! Wie viele Sandkörner brauchte man, um das Universum zu füllen?«
»Keine Ahnung«, tönte es kurz angebunden zurück. »Herr, wir sind in Syrakus, im großen Hafen, wo wir von Bord gehen. Weißt du noch? Ich muß den Abakus einpacken.«
Schützend breitete Archimedes seine Hände über das Sandtablett, das genauso hieß wie die wesentlich bekanntere Rechenmaschine, und schaute sich bestürzt um. Als er aufs Hinterdeck geklettert war, hatte das Schiff gerade die Spitze von Plemmyrion passiert, und Marcus hatte zu packen begonnen. Damals war Syrakus lediglich ein rotgoldener Fleck auf grünen Hügeln gewesen. Inzwischen schien eine geraume Zeitspanne im Sand verronnen zu sein. Rings um ihn lag Syrakus. Vom Hafen aus betrachtet schien die Stadt - die reichste und mächtigste aller Griechenstädte auf Sizilien - nur aus Mauern zu bestehen. Zu seiner Rechten ragte auf einem Felsenkap bedrohlich die ringsum zinnenbewehrte Zitadelle von Ortygia auf. Vor ihm machte die dem Meer zugewandte, graue Mauer eine langgestreckte Kurve und ging schließlich in die mit Türmen besetzten Wälle jener Festung über, die nach Süden hin den Zugang zum Marschland beherrschte. An den Flottenkais lagen zwei einsatzbereite Penteren, die Flanken mit dreifach gestaffelten, eingelegten Ruderriemen wie mit weißen Federn geschmückt.
Archimedes warf einen sehnsüchtigen Blick auf das klare Wasser in der Hafeneinfahrt hinter dem Schiff. Leuchtend blau dehnte sich das Mittelmeer unter der strahlenden Junisonne nach allen Seiten bis zum dunstigen Horizont aus, grenzenlos, bis an die Küste Afrikas. »Warum im großen Hafen?« fragte er unglücklich. Er war in Syrakus geboren, die Gepflogenheiten der Stadt waren für ihn so selbstverständlich wie ihr Dialekt. Normalerweise wurde einem Handelsschiff wie das, auf dem er und Marcus Passagiere waren, ein Platz im kleinen Hafen von Syrakus angewiesen, also auf der gegenüberliegenden Seite von Kap Ortygia. Der große Hafen blieb der Flotte vorbehalten.
»Herr, wir haben Krieg«, erklärte Marcus geduldig, hockte sich neben Archimedes und streckte die Hand nach der Sandschatulle aus.
Traurig musterte Archimedes die zwölf Billionen glitzernder Sandkörner und seine eingeritzten Berechnungen. Natürlich, Syrakus befand sich im Krieg. Deshalb wurde auch der kleine Hafen abgeriegelt und der gesamte Schiffsverkehr zwangsweise in den großen Hafen umgeleitet, wo die Flotte ein Auge darauf haben konnte. Der Krieg war nichts Neues für ihn, schließlich war das ein Grund von vielen, warum er nach Hause gekommen war. Der kleine Bauernhof, der seiner Familie gehörte, lag im Norden der Stadt und damit ganz bestimmt außerhalb jeder Verteidigungslinie. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde er in diesem Jahr nichts zum Familieneinkommen beitragen. Sein Vater war krank und konnte nicht wie gewohnt seiner Lehrtätigkeit nachgehen. Archimedes war der einzige Sohn des Hau-ses, und die Kriegszeit würde vermutlich schlimm werden. Also war nun er für den Unterhalt und den Schutz der Familie verantwortlich. Höchste Zeit, daß er mit den mathematischen Spielereien Schluß machte und sich nach einer handfesten Beschäftigung umsah. Alles Mauern, dachte er unglücklich, uneinnehmbare Mauern. Gefängnismauern.
Langsam nahm er die Hände vom eingekerbten Rand des Abakus. Marcus hob ihn auf, fand den Deckel und verschloß die Rechenschatulle. Dann schob er sie in den Segeltuchsack und marschierte damit fort. Seufzend setzte sich Archimedes zurück und ließ die Hände über die Knie herunterbaumeln. Der Zirkel rutschte ihm aus den leblosen Fingern und bohrte sich in die Deckplanken. Einen Augenblick starrte er ihn verständnislos an, dann zog er einen Fuß des Instruments heraus, drehte es um seine eigene Achse und ritzte einen Kreis in das rauhe Holz. Mal angenommen, die Kreisfläche wäre K -nein. Er klappte den Zirkel zu und preßte das kühle Doppelgestänge gegen die Stirn. Keine Spielereien mehr.
Drunten in der Kabine schob Marcus rasch den Abakus an seinen Platz in der Reisetruhe, den er dafür ausgespart hatte, dann preßte er mit Gewalt den Deckel darauf. Einhundertzwanzig Myriaden von Myriaden, dachte er, während er die Truhe geschickt mit einem Seil verschnürte. War das wirklich noch eine Zahl?
Mit Sicherheit keine vernünftige. Trotzdem hielt er einen Augenblick inne und dachte darüber nach, als ob es sich um ein dubioses Schnäppchen handelte, das ihm irgendein unzuverlässiger Ladenbesitzer angeboten hatte. Einhundertzwanzig Myriaden von Myriaden! War das die Antwort auf diese andere, neue, unmögliche Frage, »wie viele Sandkörner brauchte man, um das Universum zu füllen?«
Niemand außer Archimedes würde eine derart aberwitzige Frage stellen. Und keiner käme mit einer derart unbegreiflichen Antwort daher. Seit der junge Herr neun Jahre alt gewesen war, war Marcus als Sklave im Haushalt dieses Mannes gewesen, trotzdem war er sich bis heute nicht sicher, ob man eine derartige Rechenaufgabe bewundern oder verachten sollte. Vermutlich beides. Vielleicht hatte es doch sein Gutes, wenn der junge Träumer in Zukunft mit solchen Fragen aufhören und seinen Verstand auf eher praktische Dinge konzentrieren mußte.
Marcus unterbrach seine Gedanken und konzentrierte sich wieder auf die Truhe. Plötzlich schnürte ihm eine dunkle Vorahnung die Kehle zu. Um sie zu verdrängen, zerrte er an einem Knoten herum.
Praktische Dinge, zum Beispiel der Krieg. Drei Jahre waren er und Archimedes von Syrakus fort gewesen. Davon hatte er geschlagene zwei seinen Herrn immer wieder gedrängt, er solle doch nach Hause gehen. Jetzt waren sie also im Hafen, und nun wünschte er sich, daß sie irgendwoanders wären. Syrakus befand sich mit der römischen Republik im Krieg, und Marcus sah für sich keinen Ausweg mehr. Die Zukunft konnte ihm nur noch Leid bringen.
In den Docks deutete nicht viel auf Krieg hin, alles war nur etwas stiller als gewöhnlich. Die Zerstörung lag noch in weiter Ferne und konzentrierte seh auf Armeen, die weit weg operierten. Ein alles vernichtender Sturm war im Anrollen. Furchtsam behielt man ihn aus gebührender Distanz im Auge. Trotzdem hatte man als Zugeständnis an die Bedrohung dem in Friedenszeiten üblichen Zollbeamten am Pier zwei Soldaten zugesellt. Über der linken Schulter trugen sie Rundschilde, auf denen ein purpurrotes Sigmazeichen aufgemalt war, Syrakuser also. Trotzdem erkannte Archimedes keinen von ihnen. Die Stadt Syrakus war zwar so groß, daß er höchstens einen Bruchteil seiner Mitbürger kennen konnte, aber dennoch beobachtete er die Männer mit Sorge. Möglicherweise handelte es sich um fremdländische Söldner, und mit Söldnern mußte man vorsichtiger umgehen als mit lebenden Skorpionen. Darüber war sich jeder Bürger im klaren. Unter der früheren Herrschaft hätte jeder Bürger Prügel bezogen, von dessen Miene sie sich beleidigt fühlten. Inzwischen hatte sich die Situation unter dem gegenwärtigen Regenten sehr gebessert, aber nur ein Narr würde daraus schließen, daß sich auch der Grundcharakter dieser Brut verändert hatte. Anscheinend handelte es sich bei den Männern wenigstens um Griechen und nicht um irgendwelche unberechenbaren Barbaren. Beide trugen die typisch griechische Standardrüstung: einen Brustharnisch, bei dem mehrere, zusammengeklebte Stofflagen einen steifen Panzer bildeten, der von der Hüfte an in eine Reihe von metallbeschlagenen Streifen auslief. Auch die Helme, die sie nach hinten geschoben hatten, hatten die populäre attisch-griechische Form mit den beweglichen Backenklappen und dem ausgesparten Nasenschutz. Leider konnte man anhand ihrer Sprache keine konkreteren Rückschlüsse auf ihre Herkunft ziehen, denn sie standen nur stumm da, lehnten sich gegen ihre Speere und schauten mit gelangweilter Miene zu, wie der ältere Zollbeamte seiner Tätigkeit nachging.