»Kuboide«, erwiderte Archimedes erschöpft. Sein glasiger Blick nahm die halbverwischten Zeichnungen nur noch schemenhaft wahr. Plötzlich zuckte er zusammen, faßte sich an den Gürtel und rief laut: »Ich habe meinen Zirkel verloren!«
Nach einem kurzen Blick in die Runde hob Marcus das gesuchte Stück neben dem Gepäck vom Boden auf. Dankbar nahm es Archimedes in Empfang und prüfte, ob es beschädigt war.
»Das Ding sieht ja ziemlich scharf aus«, meinte der Soldat aus Syrakus, der in dem Moment herüberkam. »Dein Glück, daß du’s fallen hast lassen. Wenn das noch in deinem Gürtel gesteckt hätte, als dich Philonides umstieß, hättest du dich damit aufgespießt. Alles in Ordnung mit dem Bein?«
Archimedes musterte sein Knie. Es hatte zu bluten aufgehört. »Ja«, sagte er und schob sich den Zirkel in den Gürtel.
Der Soldat kommentierte diese Narretei mit einem Schnauben, trotzdem bot er sich an, beim Gepäck zu helfen. Archimedes fiel auf, daß der Wachposten ungefähr gleich alt war wie er. Ein breitschultriger Mann mit einem kurzgeschnittenen, lockigen Bart und einem pfiffig-freundlichen Gesicht. Trotz der Scherze, die er vorher seinem Kameraden zugeflüstert hatte, hatte er sich inzwischen offensichtlich zu einer freundlichen Haltung entschlossen. Archimedes nahm das Angebot an.
Während Marcus das eine Truhenende unterfaßte und sich der Soldat mit der anderen Seite abschleppte, versuchte Archimedes ziemlich wirkungslos, die Mitte abzustützen. So marschierten sie auf das Tor zu. »Danke für das Geld«, sagte der Soldat. »Übrigens, ich heiße Straton, der Sohn des Metrodoros. Wenn du dich zum Militär meldest, beruf dich auf mich, dann werde ich dafür sorgen, daß du gut behandelt wirst.«
Erneut blinzelte Archimedes verdutzt, aber dann fiel es ihm wieder ein: Der Zollbeamte hatte gemeint, er wäre zurückgekommen, um für seine Stadt zu kämpfen. Einen Augenblick lang schwieg er. Er hatte ganz und gar nicht vor, sich einschreiben zu lassen. Andererseits war ein guter Rat aus wohlgesonnener Quelle innerhalb der Stadtgarnison nicht zu verachten. »Ich, hm, hatte eigentlich nicht vor, mich einzuschreiben, jedenfalls nicht so direkt«, sagte er zögernd. »Ich, hm, dachte, der König brauchte Ingenieure. Hast du eine Ahnung, wie ich mich um eine solche Stelle bewerben sollte?«
Verstohlen warf Straton einen Blick auf den Weidenkorb an der Truhe - der große Eimer! Er lächelte in sich hinein. »Verstehst du was von Katapulten und Belagerungsmaschinen?« erkundigte er sich.
»Tja, nun«, meinte Archimedes, »ich habe so etwas noch nie gebaut, aber ich weiß, wie’s geht.«
Wieder lächelte Straton. »Nun, selbstverständlich kannst du mit dem König darüber reden«, sagte er. »Vielleicht sucht er ja Leute. Ich weiß es nicht.«
Marcus lachte. Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Soldaten, aber er sagte nichts.
»Ist König Hieron zur Zeit in der Stadt?« erkundigte sich Archimedes ernsthaft.
Straton klärte ihn auf. König Hieron befand sich beim Heer, bei der Belagerung der Stadt Messana. Sein Stellvertreter hier in Syrakus war Leptines, der Schwiegervater des Königs. Straton wußte nicht so recht, ob Archimedes an Leptides herantreten oder ob er sich besser nach Norden, nach Messana, aufmachten sollte, um mit dem König persönlich zu sprechen. Jedenfalls würde er sich mal umhören. Hätte Archimedes Lust, sich mit ihm am nächsten Abend auf einen Schluck zu treffen? Er müßte zwar wieder den ganzen Tag am Kai Wache schieben, aber seine Schicht ginge nur bis Sonnenuntergang, und dann könnten sie sich am Tor treffen. Archimedes bedankte sich bei ihm und nahm die Einladung an.
Inzwischen hatten sie das Tor passiert. Kurz dahinter setzten sie die schwere Truhe in einer schmalen, schmutzigen Straße ab. »Wohin geht ihr?« fragte Straton.
»Zur anderen Seite der Achradina«, gab Archimedes bereitwillig Auskunft, »in der Nähe des Löwenbrunnens.«
»Ihr wollt doch wohl nicht dieses Ding den ganzen Weg schleppen«, meinte Straton befehlsgewohnt. »Weiter unten in der Straße wohnt der Bäcker Gelon, der hat einen Esel, den er euch für ein paar Kupferstücke leihen wird.«
Mit einem Dankeschön machte sich Archimedes auf den Weg, um den Esel herbeizuschaffen. Marcus wollte sich schon auf die Truhe setzen, da packte ihn Straton am Arm. »Nur eine Minute!« sagte er scharf.
Der Sklave verzog keine Miene. Stocksteif blieb er stehen, ohne den Griff des anderen mit der kleinsten Bewegung abzuschütteln. Beide Männer waren ungefähr gleich groß und schauten einander direkt in die Augen. Allmählich wurde es dunkel, und hinter ihnen schloß die neue Wachschicht das Seetor von Syrakus.
»Ich bin nicht Philonides«, sagte der Soldat ruhig, »und schlage auch nicht anderer Leute Sklaven, aber du hast eine Tracht Prügel verdient. Mir ist egal, was für eine Art Italiener du bist, aber momentan hat diese Stadt für keinen von euch viel übrig. Wenn wir zum Friedensrichter gegangen wären, hättest du mindestens eine Peitschenstrafe bekommen. Dein Herr hat dich aus einem ganz schön üblen Schlamassel herausgeholt, und zum Dank dafür warst du auch noch frech zu ihm. Ich sehe es gar nicht gern, wenn sich ein Sklave über seinen Herrn lustig macht, und ’ner Menge anderer Leute geht’s genauso. Und einige verhalten sich dann tatsächlich so wie Philonides.«
Da begriff Marcus, daß er mehr wegen seines Benehmens Ärger hatte als wegen seiner Nationalität. Er entspannte sich. »Wann habe ich mich über meinen Herrn lustig gemacht?« erkundigte er sich sanft.
Straton packte den Sklaven noch fester am Arm. »Als er gesagt hat, daß er Ingenieur beim Heer werden will.«
»Ach, das!« antwortete Marcus seelenruhig. »Da habe ich doch über dich gelacht - Herr.«
Verblüfft starrte ihn Straton an. Jetzt war er beleidigt. Im Mundwinkel des Sklaven zuckte es. Allmählich genoß er die Situation. »Du hast ihn doch vom ersten Augenblick an ausgelacht«, sagte er. »Und als er sagte, er hätte noch nie ein Katapult gebaut, hast du daraus geschlossen, daß er keine Ahnung davon hat. Stimmt’s? Eines laß dir gesagt sein: Wenn Archimedes Katapulte baut und wenn König Hieron nur halb so gescheit ist, wie er sein sollte, dann ist derjenige, der bisher die Katapulte für den König gebaut hat, im selben Moment seine Stelle los. Wettest du?«
»Manchmal«, sagte Straton. Jetzt stand er vor einem Rätsel.
»Dann biete ich dir darauf eine Wette an. Zehn Drachmen gegen den Stater, den er dir gegeben hat - nein, erhöhen wir’s auf zwanzig! Und so lautet meine Wette: Falls mein Herr Ingenieur des Königs wird, wird derjenige, dessen Posten dafür in Frage kommt, innerhalb von sechs Monaten degradiert oder arbeitslos sein, egal, um welche Stelle es sich handelt. Und diese Stelle wird man anschließend Archimedes anbieten.«
»Hast du denn überhaupt zwanzig Drachmen?«
»Sicher. Willst du wissen, wie ich dazu gekommen bin, bevor du dich zur Wette entschließt?«
Einen Augenblick starrte ihn Straton mißtrauisch an, dann stieß er zum Zeichen seines Einverständnisses hörbar die Luft aus. »Gut.« Er ließ den Arm des Sklaven los.
Marcus lehnte sich rücklings gegen die Truhe. »Vor drei Jahren sind wir nach Alexandria aufgebrochen. Phidias, der Vater meines Herrn, hatte einen Weinberg verkauft, um die Reise bezahlen zu können. Er war selbst als junger Mann in Alexandria gewesen und wollte, daß sein Sohn dieselbe Chance genießen konnte. Und wie es Archimedes genossen hat - beim Herakles, und wie! Die haben da in Alexandria diesen Riesentempel, der den Musen geweiht ist, mit einer Bibliothek .«
»Ich habe von diesem Museion schon mal was gehört«, warf Straton interessiert ein. »Bei mir selbst reicht’s ja gerade zum Lesen, und das auch noch schlecht, aber die Gelehrten im Museion von Alexandria sollen die klügsten Menschen auf Erden sein.«
»Das reinste Narrenhaus«, erwiderte Marcus abschätzig. »Jede Menge Griechen, die sich an Logik berauschen. Mein Herr ist zu ihnen hineingestürzt wie ein verlorenes Lamm, das endlich seine Herde gefunden hat. Hat ’ne Menge Freunde gewonnen und sich den ganzen Tag mit Geometrie beschäftigt. Dann hat er sich die Nächte um die Ohren geschlagen und getrunken und geredet und geredet und geredet. Heim nach Syrakus kam für ihn nicht mehr in Frage. Und da willst du mir allen Ernstes erklären, ich hätte für die Art und Weise, wie ich mit meinem Herrn rede, Prügel verdient. Eines will ich dir mal sagen: Ich kann mit ihm reden, wie ich will, und dieses Recht habe ich mir redlich erworben! Ich hätte ihm alles bis aufs kleinste Kupferstück stehlen und mich davonmachen können, jederzeit, und erst drei Tage später hätte er es überhaupt gemerkt. Statt dessen habe ich mich um ihn gekümmert und versucht, aus einer Drachme zwei zu machen. Phidias hatte uns Geld für ein Jahr gegeben, aber bei den Wucherpreisen in Alexandria hätte das nie gereicht. Zuerst haben wir dieses Geld ausgegeben und dann den Betrag für die Rückreise, bis wir nur noch tauschen, borgen und Stück für Stück verkaufen konnten. Nach zwei Jahren in der Stadt waren wir total pleite und hoch verschuldet. Ich habe Archimedes so lange bearbeitet, bis er endlich hingehört hat und bereit war, irgendwelche Maschinen zu bauen.«