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»Ich bin verloren!« rief Marcus, zog Gaius rasch zur Tür des Eßzimmers hinüber und schob ihn hinein. »Verstecken!« befahl er, als Fabius an ihm vorbeiglitt.

Es klopfte zum zweiten Mal, diesmal lauter. Marcus machte hinter den beiden Flüchtlingen die Eßzimmertür zu. Gerade als er hinüberging, um die Tür zur Straße aufzumachen, rief Archimedes von draußen: »Marcus!«

»Entschuldigung, Herr«, sagte er und öffnete die Tür. »Ich war eingeschlafen.«

Archimedes wankte unsicher herein und sackte auf der Bank an der Wand zusammen. Er roch nach Wein und billigem Parfüm. Marcus machte die Tür wieder zu. »Du gehst besser ins Bett«, erklärte er seinem Herrn.

»Noch nicht«, sagte Archimedes. »Mir geht da eine Melodie im Kopf herum, die ich mir unbedingt einprägen will, bevor ich sie wieder vergesse. Hol meine Flöten.« Sein Redeschwall klang ziemlich undeutlich. Mit Entsetzen erinnerte sich Marcus an diese Stimmung. Immer wenn sein Herr so fröhlich betrunken war, versuchte er, seiner Umgebung die ganze Nacht über Geometrie beizubringen.

»Herr?«

»Meine Flöten! Sopran und Tenor.«

»Aber, Herr, es ist doch schon nach Mitternacht! Die Nachbarn.«

»Ach, beim Zeus! Sollen sie aufwachen, ist doch nur Musik!«

Marcus blieb stehen, wo er war. Er war sich der Gegenwart von Gaius und Fabius, die im Eßzimmer am Boden kauerten, so intensiv bewußt, als ob die ganze Nacht ein einziger Felsbrocken wäre, in dem er mit ihnen, erstarrt vor Furcht, eingemeißelt war. Voller Entsetzen merkte er, daß er ihnen nicht traute. Gaius würde nie einen Eid brechen, das wußte er, aber Fabius? Der Mann hatte etwas Hartes, Tödliches an sich. Er hatte den Katapultbauer, dessen sich die Stadt gerühmt hatte, umbringen wollen. Und nun saß Archimedes betrunken und nichtsahnend hier bei sich zu Hause. In einem unbewachten Augenblick wäre es für Fabius ein leichtes, herauszuschleichen und - was war eigentlich mit dem Messer passiert?

»Marcus!« sagte Archimedes ungeduldig. »Muß ich sie selbst holen gehen?«

Gute Götter und Göttinnen, dachte Marcus, sind die Flöten etwa im Eßzimmer? »Nein, Herr!« sagte er hastig. »Ich hole sie.«

Im Eßzimmer konnte er Gaius und Fabius mit Mühe erkennen. Sie kauerten genau dort, wo er es sich vorgestellt hatte, direkt in der Nähe des Fensters. Er tastete auf der Truhe nach den Flöten, konnte sie aber nicht finden.

»Marcus, hast du einem der Männer von Dionysios erzählt, daß ich Philyra mit Conon verheiraten will?« rief Archimedes vom Hof herein.

»Schon möglich«, antwortete Marcus. Es hatte keinen Zweck, er mußte eine Lampe anzünden. Schwitzend vor Angst tastete er herum und fand eine, die normalerweise auf dem Tisch stand.

»Warum hast du das gesagt?« fragte Archimedes. »Du weißt doch, Conons Vater hätte nie zugestimmt.«

»Aber du hast doch selbst immer davon geredet«, sagte Marcus und suchte geistesabwesend nach dem Feuerstein zum Lampenan-zünden. »Ich dachte, weil wir doch jetzt reich sind, vielleicht.«

»Nein«, sagte Archimedes, »nein, er muß doch nächstes Jahr dieses Mädchen aus Samos heiraten. Daran hättest du wirklich denken müssen. Und außerdem weißt du genau, daß Philyra nicht von Syrakus weg will. Du hättest gar nichts sagen dürfen. Wenn sie herausbekommt, daß ich auch nur mit dem Gedanken gespielt habe, sie an jemanden in Alexandria zu verheiraten, wird sie toben. Und Dionysios war auch ganz schön aufgebracht darüber. Weißt du, was er gemacht hat? Er hat selbst um Philyras Hand angehalten!«

Marcus erstarrte, zwang sich dann aber mit zitternden Händen dazu, ein Licht anzuzünden. Der Lampendocht fing sofort Feuer und tauchte den Raum in ein warmes, gelbes Licht, das sich in den Augen der beiden Männer unter dem Fenster widerspiegelte. Jetzt sah man auch, daß Fabius auf einer Wange blutverschmiert war und in der Hand das Messer hielt. Marcus schüttelte den Kopf und bedeutete dem Mann mit verzweifelten Gesten, er solle das Messer wegstek-ken. Dann schaute er sich im Zimmer nach den Flöten um, die aber nirgends zu sehen waren. »Herr, wo sind denn deine Flöten?« fragte er besorgt.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Archimedes und gähnte. »Mach schnell und such sie!«

Marcus ging mit der Lampe in den Hof zurück. »Welche Antwort hast du Dionysios gegeben?« fragte er.

Sein Herr lümmelte in Trauerkleidung, aber ohne Mantel, breitbeinig auf der Bank herum und hatte sich einen Petersilienkranz ganz nach hinten auf die geschorenen Haare geschoben. Petersilie galt als Heilmittel gegen Trunkenheit, aber in diesem Fall hatte sie wohl versagt. »Keine«, sagte Archimedes. »Ich werde es Philyra überlassen. Obwohl er vielleicht keine schlechte Partie wäre.«

»Aber Philyra ist doch noch ein Mädchen!« beschwor ihn Marcus. Selbst jetzt noch fand er die Zeit, sich den Kopf zu zerbrechen, ob sie vielleicht die Meinung ihres Bruders teilen könnte. »Und von einer Sechzehnjährigen kannst du doch keine vernünftige Entscheidung über ihre Zukunft erwarten.«

Archimedes lachte laut auf. »Ach, bei Apollon! Marcus, du weißt doch nur allzugut, daß du von mir nicht einmal eine vernünftige Entscheidung darüber erwarten kannst, was wir auf dem Markt einkaufen sollen! Wie kannst du glauben, daß ich in der Lage wäre, für Philyra einen Ehemann zu suchen, wenn ich nicht einmal Oliven einkaufen kann?« Er zog die Knie an und schlang die Arme herum. »Philyra wird eine wesentlich vernünftigere Entscheidung treffen, als ich es je könnte. Die vernünftige Philyra. Marcus, du hältst doch Geometrie für absoluten Blödsinn, stimmt’s?«

»Nein.«

»Nein? Aber das hast du doch bisher immer getan. Wenn du die Gelehrten ins Museion gehen sahst, hast du normalerweise ein Gesicht gezogen wie ein. wie ein Bankier, der zuschauen muß, wie ein Erbe sein Vermögen verschleudert. Soviel Intelligenz einfach in die Luft verpufft! Ganz tief drinnen teilt Dionysios deine Meinung. Bei unserer ersten Begegnung hat er zwar das Loblied auf Alexandria angestimmt und es das Haus der Aphrodite genannt, aber heute abend hat er mir immer nur aufgezählt, was ich Syrakus schuldig sei. Ich glaube, meine Flöten liegen vielleicht bei mir im Zimmer.«

»Ich werde sie holen«, krächzte Marcus hilflos. Er stellte die Lampe neben seinen Herrn in der Hoffnung, daß ihn ihr Licht ein wenig beschützen würde, dann rannte er drei Stufen auf einmal nach oben und stürmte ins Schlafzimmer. Unter der grauen Fensteröffnung zeichnete sich die Kleidertruhe als schwarzer Kasten ab. Er tastete sich daran entlang. Zuerst fand er den gekerbten Abakusrahmen und dann einen Stapel glatter Holzschachteln - die Flötenschatullen. Er fühlte sich wie nach einem Schwall frischer Luft während eines Sandsturmes. Klopfenden Herzens schnappte er sich alle Schachteln und rannte wieder hinunter.

Archimedes saß noch immer still auf der Bank, drehte im Lampenschein eine Hand hin und her und beobachtete, wie sich Licht und Schatten auf seiner Handfläche abwechselten. Marcus machte einen Moment die Augen zu. Vor Erleichterung fühlte er sich ganz matt.

Sofort stürzte sich Archimedes auf die Auloi und suchte eifrig nach der Sopran- und nach der Tenorflöte. Dann schob er die Rohrblätter hinein, regulierte die Metallringe und stürzte sich ohne ein weiteres Wort in eine komplizierte Melodie.

Zuerst war es ein Tanz, ein rasches, fröhliches Tremolo auf der Sopranflöte, begleitet von einem schnellen, regelmäßigen Takt in der Tenorflöte. Ein Reigen, ein Reihentanz, eine Melodie, um auf der Straße zu tanzen. Aber dann veränderte sie sich unter seinen schnellen Fingern. Der Rhythmus wechselte in die Sopranflöte, und plötzlich übernahm die Tenorflöte mit beunruhigenden Tempiwechseln die Melodie. Sie beschleunigte und wurde wieder langsamer. Beinahe klang es, als würde sie aus dem Takt geraten, aber dann fing sie ihn im letzten Moment plötzlich doch wieder ein. Ohne Vorwarnung wechselte die Tonart, die Melodie wurde klagend und bekam einen Unterton, der die Dunkelheit widerspiegelte. Die Unruhe wuchs. Was zuerst schon schnell gewesen war, verwandelte sich nun in einen Höllentanz. Hals über Kopf schossen die Töne über einem Chaos von Dissonanzen dahin, Tenor und Sopran kämpften miteinander, ein Gewirr von Noten hetzte hintereinander her, haarscharf am Desaster vorbei. Doch auf einmal gingen alle Noten ineinander über und bildeten eine einzige Harmonie: jene wahre Harmonie, die es in der griechischen Musik so selten gab. Zwei Töne sangen einen Akkord, der in Schauern den Rücken hinabrieselte. Und ihre Melodie klang traurig und langsam. Das Tanzthema kehrte zurück, aber jetzt als Marsch, als langsamer Abschiedsmarsch. Die Harmonie wurde einstimmig und erklang leise in die Nacht hinaus, bis sie sich schließlich ganz sanft in Stille auflöste.