Lange Zeit herrschte Schweigen. Markus merkte, daß er keine Ahnung hatte, wie lange das Musikstück gedauert hatte, denn während der ganzen Zeit hatte er an nichts anderes gedacht. Archimedes betrachtete blinzelnd die Flöten in seinen Händen, als ob er vergessen hätte, wozu sie dienten.
»Mein Schatz«, erklang Aratas Stimme aus einem Fenster im Oberstock, »dies hat ein Gott geschickt, aber vielleicht wissen es die Nachbarn trotzdem nicht zu schätzen. Und außerdem solltest du längst im Bett sein.«
»Ja, Mama«, rief Archimedes sofort, zog die Rohrblätter aus den Auloi und legte die Instrumente wieder in ihre Schachteln zurück. Dann stand er auf und fuhr mit der Hand durch seine struppigen Haare.
»Was war das?« fragte Marcus mit erschütterter Stimme.
Archimedes zögerte. »Ich denke, es war ein Abschiedslied für Alexandria«, antwortete er abwesend. »Aber die Entscheidung eilt ja nicht.« Er schwankte über den Hof, und dann hörte Marcus die Treppe knarren, als er zu seinem Bett hinaufkletterte.
Marcus setzte sich auf die Bank und blieb eine kleine Weile bebend dort sitzen. Endlich fiel ihm auf, daß die Lampe rußte, und er blies sie aus.
Geräuschlos öffnete sich die Tür zum Eßzimmer, die beiden Flüchtlinge schlüpften heraus. »Beim Jupiter!« flüsterte Fabius. »Ich dachte schon, der junge Narr würde nie mehr aufhören zu spielen!«
»Sei bloß still!« flüsterte Gaius wütend zurück. »Götter und Göttinnen, dieser Junge kann vielleicht Flöte spielen!«
»Für Konzerte ist jetzt keine Zeit!« antwortete Fabius. »Wenn wir zur Stadt hinaus wollen, müssen wir jetzt gehen!«
»Schscht!« machte Marcus. »Laßt erst den Haushalt zur Ruhe kommen.«
Gaius setzte sich auf die Bank. Marcus spürte die straffe Leinenschlinge, die den gesplitterten Arm seines Bruders stützte. Schweigend saßen sie beisammen. Jeder spürte die Körperwärme des anderen in der warmen, milden Nacht. Marcus mußte an früher denken: Acht Jahre alt war er damals gewesen, und sein Vater hatte ihn geschlagen. Und Gaius war genauso neben ihm gesessen - ohne Körperkontakt. Sein Vater hatte ihn grün und blau geschlagen, und jede Berührung hätte zusätzlich weh getan. Aber bereits die Gegenwart seines Bruders hatte ihn getröstet. Jetzt brach sich die Liebe, die er immer für seinen Bruder empfunden hatte und die unter seiner eigenen Schande und Verwirrung wie ein unterirdischer Fluß dahingetrieben war, ihre Bahn. Und mit ihr kam die Trauer, blind und ver-störend, daß ein Wiedersehen nur unter solchen Umständen möglich war.
Im Hause war alles still, ganz still. Falls sich die Nachbarn durch das Konzert gestört gefühlt hatten, hatten sie beschlossen, nichts dazu zu sagen, und waren wieder schlafen gegangen. Endlich erhob sich auch Marcus und ging in die Vorratskammer neben der Küche. Archimedes hatte während seiner Kindheit Maschinen gebaut. In der Vorratskammer standen noch immer die Ergebnisse seiner Experimente herum. Hier gab es genügend Seile. Es hatte eine Zeit gegeben, in der jede Maschine eine Art Kran wurde. Marcus nahm alle Seile und steckte sie in einen großen Weidenkorb, den er sich über die Schulter schlang. Dann fügte er noch eine Winde und einen kleinen Holzanker hinzu, die zu einem Flaschenzug gehört hatten. Bestens gerüstet ging er wieder in den Hof hinaus. »In Ordnung«, flüsterte er, »wir können gehen.«
Als er den Türriegel zurückschob, bemerkte er aus dem Augenwinkel heraus einen schwachen Widerschein. Bei einem schnellen Blick zurück sah er, wie Quintus Fabius das Messer prüfte. Er zitterte. Aber dann redete er sich ein, daß dieser Mann letztlich doch seinen Eid gehalten hatte, und trat ins Freie.
Die Hintergassen der Achradina lagen dunkel und verlassen unter den Sternen. Ein Wachhund schlug an, als sie vorbeigingen, verstummte dann aber wieder. Marcus führte die beiden Männer rasch durch das Straßengewirr und anschließend einen schmalen Pfad hinauf, der in Zickzacklinien die Anhöhe zur Epipolae überwand. Schließlich kamen sie gegenüber dem Tychetempel auf dem Hochplateau heraus. Aus Ehrerbietung vor der Glücksgöttin küßte er seine Finger und trabte dann rechts an ihrem Tempel vorbei. Rasch hatten sie die letzten Hütten des Tycheviertels hinter sich gelassen und bahnten sich nun einen Weg durch das dürre Gestrüpp des Höhenzugs.
»Wo gehen wir hin?« fragte Fabius, der plötzlich neben ihm auftauchte, und dank der unbewohnten Gegend die Gelegenheit zum Reden ergriff.
»Ich habe vor, euch an der Seemauer herunterzulassen, dort, wo das Plateau ins Landesinnere abbiegt«, antwortete Marcus. »Da ihr keine Flotte habt, stehen dort nicht sehr viele Wachen. Die Mauer verläuft oben an den Steilklippen, aber wir haben ja genügend Seile. Unten am Fuß müßt ihr dann ein bißchen über zerborstene Felsen klettern, aber sobald ihr die überwunden habt, müßt ihr euch nur immer nach Norden und ein wenig ins Landesinnere hinein halten, dann kommt ihr zu eurem Lager.«
»Du redest immer von >euch<«, stellte Fabius fest. »Eigentlich sollte es doch >wir< heißen, oder?«
»Nein«, antwortete Marcus gelassen. »Nicht, solange ihr Syrakus belagert.«
»Marcus!« rief Gaius, der jetzt gleichfalls nach vorne kam. »Du kommst mit uns!«
»Nein.«
»Du bist ein Römer!« protestierte Fabius verärgert. »Du gehörst nicht hierher!«
»Ich bin ein Sklave«, sagte Marcus barsch. »Ein Römer wäre bei Asculum gestorben.«
»Hör auf!« schrie Gaius. »Asculum ist lange vorbei. Du bist in Panik geraten, aber schließlich warst du ja auch erst sechzehn und hattest nur eine dreiwöchige Ausbildung. Eigentlich hättest du noch gar nicht bei der Legion sein dürfen. Ich war derjenige, der dich mitgenommen hat. An diesem Vorfall bin ich mehr schuld als du.«
»Lügner«, sagte Marcus müde. »Du weißt genau, daß ich derjenige war, der unbedingt mitkommen wollte. Ich wollte nicht mit Vater zu Hause bleiben. Ich war derjenige, der fortgelaufen ist, genauso wie ich mich später entschieden habe, am Leben zu bleiben.«
»Du hast diesem Flötenspieler erzählt, eine Sechzehnjährige könne unmöglich eine vernünftige Entscheidung über die Zukunft treffen«, sagte Fabius. »Warum nimmst du dich selbst davon aus?«
»Du sprichst Griechisch?« fragte Marcus erstaunt.
»Ein bißchen.«
»Asculum ist Vergangenheit«, sagte Gaius, um wieder auf das Thema zurückzukommen. »Du kannst jetzt wieder zurück.«
»Um meine Strafe anzutreten?« wollte Marcus wissen.
»Nein!« sagte Gaius und faßte ihn an der Schulter. »Um heimzukommen. Ich bin sicher, daß man dich begnadigen wird. Die Sache ist doch schon so lange her, und außerdem hast du’s dadurch wettgemacht, daß du uns zur Flucht verholfen hast. Du kannst zum Konsul gehen und ihm beichten, was du über die Verteidigungsmaßnahmen von Syrakus weißt. Er wird dir Amnestie gewähren, ganz sicher.«
»Ach ja?« fragte Marcus bitter. Derselbe Gedanke war ihm auch schon gekommen. »Aber was ist, wenn ich ihm nicht erzähle, was ich über die Verteidigungsmaßnahmen von Syrakus weiß? Was passiert dann?«
»Warum solltest du’s ihm nicht erzählen?«