»Weil ich niemandem helfen werde, Syrakus zu erobern«, sagte Marcus entschieden. »Mögen mich die Götter vernichten, wenn ich’s tue!«
»A-aber Marcus!« stotterte Gaius ungläubig.
»Ihr seid diejenigen, die hier nichts zu suchen haben!« rief Marcus und attackierte ihn wütend. »Siehst du das denn nicht ein? Rom und Karthago haben beide ihr Machtgebiet erweitert. Keiner traut dem anderen. Schon lange haben sie zum Krieg gerüstet. Schön! Das macht ja alles noch Sinn, aber jetzt verbündet sich Rom mit Messana und greift Syrakus an! Was ist daran sinnvoll?«
»Der Senat und das Volk von Rom haben sich nach reiflicher Überlegung dafür entschieden«, erklärte Fabius tadelnd. »Glaubst du, du weißt es besser als sie?«
»Ja!« behauptete Marcus. »Ich kenne Syrakus, während ihr mir selbst bestätigt habt, daß es das römische Volk nicht tut. Irgend so ein Bandit spuckt eine dreiste Lüge über Syrakus aus, und das große römische Volk schnappt danach wie ein Hund! Meiner Meinung nach hat Rom seit Beginn dieses Krieges nicht mehr gewußt, was es tat, wie ein General, der euer Manipel gegen die Katapulte geschickt hat. Tut mir leid, Gaius, aber es ist wahr.«
»Marcus«, beschwor ihn Gaius, »Marcus, du mußt mit uns kommen. Den Wachtposten wird wieder einfallen, daß du zu uns gekommen bist, und dann werden sie vermuten, daß du derjenige warst, der uns geholfen hat. Wenn du hierbleibst, werden sie dich kreuzigen!«
»Du hast wirklich keine Ahnung von Syrakus«, erklärte ihm Marcus empört. »Die Karthager kreuzigen. Die Griechen enthaupten oder töten durch Gift. Aber ich glaube nicht, daß sie das tun werden, keines von beiden. Niemand weiß, daß ich dich gesehen habe. Und was die Wachtposten betrifft, so habe ich mich lediglich im Steinbruch umgesehen. Mein Herr ist gut bekannt und eine Vertrauensperson. Sein guter Ruf wird mich beschützen. Und selbst wenn man mich erwischt - hörst du, Gaius! -, selbst wenn man mich erwischt, bin ich bereit, die Strafe zu bezahlen.
Ich habe einmal meinen Posten verlassen und mußte damit leben. Ich habe meinen Platz im Leben zerstört und mich wie ein Hund in die Sklaverei geflüchtet. Jetzt ist mein Platz hier. Ich werde meinen Posten nicht zum zweiten Mal verlassen.«
»Ach, ihr Götter und Göttinnen!« rief Gaius aufgeregt. »Marcus, das kannst du nicht machen! Ich dachte, du wolltest mit uns kommen! Wenn ich gewußt hätte, daß du bleiben willst, hätte auch ich nie einen Fluchtversuch unternommen!«
»Na und?« antwortete Marcus. »Ich habe dir gesagt, du sollst es nicht tun. Ich habe dir gesagt, daß es besser für dich wäre, wenn du bleibst, wo du bist. Du hast es nicht gewollt. Aber niemand hat mich gezwungen, dir zu helfen, es war meine eigene, freie Entscheidung. Wenn ich mit den Konsequenzen leben kann, warum dann du nicht?«
»Ich mußte bereits einmal mit deinem Tod auf meinem Gewissen leben! Zwing mir das nicht noch einmal auf! Du mußt mit uns kommen!«
»Nein.«
»Beim Jupiter!« rief Fabius nach einer gewissen Pause. »Und das alles wegen Syrakus. Was hatte der Sohn deines Herrn über die Alexandriner gesagt?« Er wiederholte den Satz auf Griechisch mit schwerem Akzent: »Soviel einfach in die Luft verpufft!«
Da blieb Marcus stehen und musterte ihn stirnrunzelnd. »Der Sohn meines Herrn?« fragte er.
»Na, dann eben der Neffe«, sagte Fabius, »oder sein Liebhaber, wenn er’s denn sein sollte. Ich weiß ja, daß diese Griechen eine gewisse Neigung haben. Der Flötenspieler.«
»Du hast also nicht begriffen, wer er war!« rief Marcus. Jetzt war er hundertprozentig überzeugt, daß ihn sein instinktiver Argwohn doch nicht getrogen hatte. Wenn Fabius begriffen hätte, wer dort gesessen war, hätte Archimedes sterben müssen.
»Also, wer war’s denn dann?« fragte Fabius ungeduldig.
»Mein Herr und Meister«, sagte Marcus mit Befriedigung und ging wieder weiter.
»Dieser Knabe}« sagte Gaius erstaunt.
»Er ist zweiundzwanzig«, antwortete Marcus. »Ursprünglich wurde ich an seinen Vater verkauft.«
»Aber du hast doch gesagt - und im Fort haben sie’s auch gesagt
- und da dachte ich.« Gaius brach ab. Plötzlich lachte er schallend los. »Oh, beim Jupiter! Ich habe ihn mir immer als alten Mann mit schrecklichen Augen und weißem Bart vorgestellt! Ein furchterregender Magier, dachte ich. Ich habe mich schon gewundert, was dieser geschwätzige, junge Flötenspieler im selben Hause zu suchen hatte!«
Plötzlich überflutete Marcus eine neue Welle der Liebe zu seinem Bruder. Er stimmte in sein Lachen ein. »Furchterregender Magier?«
Gaius wedelte wegwerfend mit seiner gesunden Hand. »Du hast gesagt, er könne die Sandkörner zählen und das Wasser bergauf fließen lassen. Für mich klingt das wie Magie.«
Wieder lachte Marcus. »Das ist es eigentlich auch«, sagte er. Plötzlich hätte er seinem Bruder am liebsten alles erzählt, was er seit seiner Versklavung gesehen und getan hatte. »Auch für mich hat die Wasserschnecke noch immer etwas Magisches, obwohl ich beim Bau geholfen habe. Gaius, das ist diese Maschine, die das Wasser bergauf fließen läßt, eine Art - nein, du mußt sie gesehen haben, wirklich, erst dann kannst du es richtig einschätzen. Es ist.«
Plötzlich hörte Gaius zu lachen auf. »Marcus, komm mit uns!« wiederholte er. »Bitte!«
»Gaius, wenn ich mitkomme, werde ich sterben«, antwortete Marcus kläglich. »Das weißt du ganz genau.«
»Wirst du nicht! Nicht wenn du als loyaler Römer zurückkehrst, der uns zur Flucht verholfen hat.«
»Und zum Beweis dafür müßte ich Syrakus verraten! Und das werde ich nicht tun, dafür verdanke ich dieser Stadt zuviel.«
»Was kannst du schon einer Stadt verdanken, wo du Sklave warst?«
Marcus zuckte die Schultern. Er dachte an die Musik, an die Familienkonzerte, an die öffentlichen Aufführungen, die er im Dienste der Familie gehört hatte, und an die Theaterstücke. Und dann waren da die Menschen - Nachbarn, die anderen Haussklaven, Arata, Archimedes. Und Philyra. Aber darüber hinaus gab es noch etwas: das ungeheuere Ausmaß einer Welt, die er nur am Rande gestreift hatte, der stetige Ideenstrom, der an ihm vorbeigeflogen war, unbegreifbar und verwirrend, aber im Rückblick doch eine Erweiterung seines Horizontes. Er hatte seine Sklaverei gehaßt und tat es noch immer -aber alles übrige konnte er nicht bedauern.
»Mehr als ich erklären kann«, sagte er leise. »Jeder Versuch, darüber zu sprechen, ist wie der Versuch, die Dinge in ein winziges Hohlmaß zu pressen - ich kann es nicht. Aber, Gaius, glaube mir, wenn ich Syrakus verraten würde, würde ich den letzten Funken Ehre und Loyalität zerstören, der in mir noch übrig ist. Verlang das bitte nicht von mir.«
Gaius berührte sachte seine Schulter. »Dann bete ich zu allen Göttern«, flüsterte er, »daß du recht hast und daß dich niemand verdächtigt. Marcus, wenn man dich tötet, weil du mir geholfen hast, dann. weiß ich nicht, was ich tun werde.«
12
Beim nächsten Morgengrauen weckte Agathon den König mit der Nachricht, Dionysios, der Sohn des Chairephon, sei soeben angekommen und bitte um Audienz.
»Bankettsaal«, befahl Hieron kurz und bündig. »Sag ihm, ich bin in einer Minute bei ihm.«
Eine Minute später erschien der König barfuß und spärlich bekleidet im Bankettsaal, wo ihn der Hauptmann der Ortygia-Garnison in Habtachtstellung neben der Tür empfing. Dionysios machte einen zerknitterten, übermüdeten Eindruck wie einer, der sich den Großteil der Nacht um die Ohren geschlagen hat. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.
»Setz dich«, sagte Hieron, wobei er seinen angestammten Platz auf der Liege im Mittelpunkt einnahm und auf den Platz zu seiner Rechten deutete. »Was ist los?«