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Dionysios ignorierte die Einladung zum Hinsetzen und sagte statt dessen ohne Umschweife: »Vergangene Nacht sind zwei römische Gefangene geflohen. Meine Truppen hatten sie bewacht. Ich übernehme die volle Verantwortung.«

Hieron musterte ihn, dann seufzte er. »Wurde jemand verletzt?«

Dionysios verzog das Gesicht. »Ein Wachsoldat wurde ermordet - Straton, der Sohn des Metrodoros, ein guter Mann, einer meiner Besten. Ich hatte ihn zur Beförderung vorgesehen. Seine Familie habe ich bereits informiert.«

Hieron blieb einen Augenblick stumm, dann sagte er schließlich: »Möge die Erde leicht auf ihm ruhen! Schildere mir den genauen Vorgang, soweit du ihn kennst, und - Hauptmann? Ich werde entscheiden, wer hier verantwortlich ist, nicht du. Also, setz dich endlich, oder ich verrenke mir noch das Genick.«

Dionysios setzte sich steif. »Ungefähr eine Stunde nach Mitternacht«, sagte er, »fiel dem Posten im mittleren Abschnitt der Steinbruchmauer auf, daß sich Straton, der im westlichen Teil Wache hatte, nicht auf seinem Platz befand. Als er hinüberging, um ihn zu suchen, fand er ihn mit durchschnittener Kehle oben auf der Mauer liegen. Neben ihm hing auf der Vorderseite der Mauer ein Seil herunter. Sofort schlug der Wachtposten Alarm, woraufhin der verantwortliche Reihenführer im Steinbruch - ein gewisser Hermokrates, Sohn des Dion - konsequent die Wachen auf der Mauer verdoppelt und einen Eilboten zu mir geschickt hat. Er selbst überprüfte persönlich die Gefangenen, von denen die meisten tief und fest schliefen. Die Hüttenposten waren wach und an ihren Plätzen. Lediglich aus der mittleren Hütte fehlten zwei Leute: Gaius Valerius und Quintus Fabius, zwei schwere Fußsoldaten aus demselben Manipel. Fabius war wohl eine Art Offizier - tesserarius, so lautet meiner Meinung nach der Titel.«

»Wachkommandant«, übersetzte Hieron, »der niederste Unteroffiziersrang innerhalb einer Centurie.«

»Die beiden fehlenden Männer waren direkt nebeneinander gelegen«, fuhr Dionysios fort. »Valerius war verwundet - hatte den Arm und mehrere Rippen gebrochen - und deshalb nicht angekettet, während Fabius in Fußeisen lag. Irgendwie hat er es geschafft, sie loszuwerden. Vermutlich hat er sie einfach von den Füßen gestreift, denn sie lagen noch völlig unversehrt an Ort und Stelle. Die Hüttenposten meinten, die Fesseln wären schon alt gewesen und der Gefangene so geschmeidig wie eine Schlange. Hinter der Stelle, wo die beiden gelegen hatten, waren an der Hüttenwand zwei Bretter durchgesägt und anschließend wieder eingefügt worden. Hermokrates hat die Hütte durchsuchen lassen und die Säge unter einer Matratze versteckt gefunden.« Dionysios holte das Beweisstück aus einer Mantelfalte und legte es auf den königlichen Eßtisch: ein ganz gewöhnliches, eisernes Sägeblatt, um das anstelle eines Griffes ein Stück Stoff gewickelt war. Hieron nahm es hoch, prüfte es und legte es dann wieder hin. Der Hauptmann fuhr fort: »Als ich ankam, hat Hermokrates gerade die anderen Gefangenen verhört. Sie behaupten, nichts von der Flucht bemerkt zu haben, obwohl es offensichtlich ist, daß wenigstens ein paar von ihnen etwas gemerkt haben müssen. Ich hatte zwei Reihen Soldaten mitgebracht, die ich sofort auf die Suche nach den Flüchtigen geschickt habe, aber inzwischen war so viel Zeit verstrichen, daß sie ihre Flucht gut zu Ende führen konnten. Hermokrates hat nicht sofort alle Straßen durchkämmen lassen. Und obwohl wir keine Spur von ihnen gefunden haben, möchte ich hiermit klarstellen, daß ich seine Entscheidung voll und ganz unterstütze. Denn anfänglich kannte er weder das wahre Ausmaß der Fluchtaktion, noch hatte er genügend Männer, um gleichzeitig den Steinbruch zu sichern und die Straßen zu durchsuchen.«

»Ich teile diese Ansicht«, sagte Hieron. »Hast du die Hauptmänner in den Forts auf der Stadtmauer informiert?«

»Das habe ich sofort nach meiner Ankunft im Steinbruch erledigt.

Inzwischen müßten sie jeden im Auge haben, der die Stadt verlassen möchte.«

»Gut. Dann halten sich die beiden Männer aller Wahrscheinlichkeit nach noch immer in der Stadt auf. Vermutlich verstecken sie sich bei demjenigen, der ihnen die Säge, das Seil und die Waffe gebracht hat, die sie gegen diesen armen Wachsoldaten eingesetzt haben. Wer hat mit den Gefangenen Kontakt gehabt?«

Dionysios zuckte müde die Schultern. »Du, ich, ihre Wachen, dein Leibarzt. Mehr weiß ich nicht. Du weißt ja, daß ursprünglich die Garnison des Hexapylons für sie verantwortlich war. Ich habe mit meinen Männern erst gestern übernommen. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, daß Hauptmann Lysias nachlässig gewesen ist. Aber da wäre trotzdem noch eine Sache.« Er zog ein zusammengeknotetes Stück Stoff aus seiner Börse, legte es auf den Tisch und knüpfte es auf. Zum Vorschein kam eine Silbermünze. »Einer der Wachen behauptet, die hätte ihm Valerius gestern gegeben und ihn gebeten, Öl zu kaufen. Der Posten hat mit ein bißchen Kleingeld das Öl gekauft, die Münze aber hat er behalten und sie mir dann letzte Nacht ausgehändigt.«

Hieron hob die Münze auf und prüfte sie eingehend. Auf der Rückseite waren eine Krone und ein Blitz abgebildet, während von der Vorderseite das Profil von Ptolemaios IL samt Stirnband lächelte. »Überraschend«, sagte Hieron mit neutraler Stimme, dann fügte er mit einem milden Blick auf Dionysios hinzu: »Gehe ich recht in der Annahme, daß dein Wachsoldat ebenfalls überrascht war? Schließlich hat er dir die Münze ja ausgehändigt.«

Dionysios nickte. »Er hat gesagt, er hätte einige Bemerkungen gemacht, als man ihm die Münze angeboten hatte. Daraufhin hätte der Gefangene ihm erklärt, daß sie genausoviel wiege wie die sizi-lianischen.«

»Was natürlich auch stimmt«, sagte Hieron. »Allerdings kommt diese Münze in den Händen eines Römers nicht gerade häufig vor.« Er legte die Münze wieder hin. »Vielleicht hat das ja nichts zu bedeuten«, fügte er nach einer Weile hinzu. »Falls ein Römer eine derart seltene Münze bekommt, könnte ihn das vielleicht dazu veranlassen, sie als Glücksbringer zu behalten. Vielleicht hat er sie als eine Art Talisman um den Hals getragen und erst dann ausgegeben, als man ihm sein übriges Geld bei der Gefangennahme abgenommen hatte. Vielleicht hat er unbedingt etwas Öl kaufen wollen, damit sein Freund die Ketten besser abstreifen konnte.«

»Ach, beim Zeus!« rief Dionysios verblüfft, dem an der Bitte nach Öl nichts Merkwürdiges aufgefallen war. Öl wurde wie Seife verwendet, und so hatte er es mit dem verständlichen Bedürfnis in Verbindung gebracht, daß sich selbst ein Gefangener waschen möchte.

Hieron lächelte ihn verkniffen an. »Andererseits könnte sie aus derselben Quelle stammen wie das Seil. Ich nehme an, du hast überprüft, ob einer deiner Männer vor kurzem in Ägypten gewesen ist. Befinden sich italienische Söldner darunter? Oder Griechen aus einer der Städte in Italien?«

»Zwei sind Taraser«, gestand Dionysios, »aber ich kann mir nicht vorstellen - das heißt, ich weiß, daß wenigstens der eine ein fanatischer Romgegner ist. Das hat uns schon immer Probleme bereitet.«

»Überprüfe trotzdem ihre Herkunft«, befahl der König. »Vergewissere dich, ob möglicherweise Erpressung dahintersteckt. Und noch etwas: Überprüfe, ob irgend jemand zwar den Steinbruch besucht hat, aber nicht die Gefangenen.«

»Was?« fragte der Hauptmann überrascht.

»Die Säge hat keinen Griff«, betonte Hieron. »Würde ein Mann, der eine Säge einschmuggelt, bewußt eine ohne Griff wählen? Ich behaupte, es ist viel wahrscheinlicher, daß der Griff abgenommen wurde, um das Werkzeug durch einen Spalt in der Wand schieben zu können.«

»Beim Zeus!« rief Dionysios zum zweiten Mal mit großen Augen. »Ein Mann ist mir bereits bekannt, der den Steinbruch besucht hat und nicht die Gefangenen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat er nichts damit zu tun, aber vielleicht haben andere den gleichen Auftrag vorgeschoben.«

»Und welcher Auftrag war das?«