»Steine für besonders große Katapulte«, sagte der Hauptmann. »Lysias hat mir erzählt, daß Archimedes seinen Mitarbeiter herumgeschickt hat, um zu testen, welcher Steinbruch die beste Munition für den Drei-Talenter liefern könnte.«
Hieron fuhr herum und starrte Dionysios alarmiert mit weit aufgerissenen Augen an. »Ach, ihr Götter!« rief er.
»Was ist los?« fragte Dionysios überrascht. »Es war tatsächlich der Sklave von Archimedes. Dein Arzt war gleichzeitig da und hat den Mann erkannt, hat Lysias gesagt.«
Hieron schüttelte den Kopf und klatschte in die Hände. Agathon tauchte mit mürrischem Gesicht im Türrahmen auf. »Nimm eine halbe Reihe Soldaten aus den Wachbaracken«, befahl der König, »und begib dich eilends zum Haus von Archimedes in der Achradina. Ich glaube, du weißt, wo es liegt. Es handelt sich um zwei entflohene Kriegsgefangene, die sich vielleicht dort verstecken. Bring die Hausbewohner in Sicherheit und durchsuche dann das Haus nach den Gefangenen. Die Bürger müssen absolut höflich behandelt werden. Bitte Archimedes, er soll hier heraufkommen. Und falls dieser italienische Sklave von ihm in der Nähe ist, schick ihn, unter Bewachung, ebenfalls mit. Beeil dich! Lauf!«
Der erstaunte Agathon nickte mit dem Kopf und eilte davon. Hieron erhob sich und kaute angespannt auf seinem Daumen herum. Bestürzt starrte ihn Dionysios an.
»Königlicher Herr!« rief er. »Du wirst doch nicht denken, daß Archimedes.«
»Besagter Sklave ist ein Latiner«, sagte Hieron. »Und außerdem war er in Ägypten. Hätte Archimedes tatsächlich einen Spezialstein für seinen Drei-Talenter gebraucht - und mir ist nichts dergleichen berichtet worden! -, dann hätte er sicher einen Mann aus der Werkstatt auf die Suche geschickt. Bisher war er nämlich immer übervorsichtig und hat genau diesen Sklaven von allen strategisch wichtigen Dingen ferngehalten.«
»Woher weißt du.«, begann Dionysios matt.
»Weil ich’s überprüft habe!« schnauzte ihn Hieron an. »Der Sklave behauptet, ein Samnite zu sein, was offensichtlich eine Lüge ist. Er ist schon seit dreizehn Jahren in Syrakus - mit anderen Worten, seit dem Pyrrhuskrieg. Damals hat man eine ziemlich große Anzahl Latiner und auch andere römische Verbündete versklavt. Möglicherweise hat er unter den Gefangenen Bekannte entdeckt und sich bereit erklärt, ihnen zur Flucht zu verhelfen, wenn sie ihm ihrerseits helfen würden, wieder als freier Mann nach Hause zu kommen. Beim Herakles, hoffentlich irre ich mich! Hoffentlich finden wir nicht auch noch Archimedes wie diesen armen Wachsoldaten mit durchschnittener Kehle vor!«
»Er war letzte Nacht mit mir zusammen«, sagte Dionysios matt. »Ich hatte ihn in die Arethusa zum Essen eingeladen. Ich. wollte ihn fragen, ob ich seine Schwester heiraten könnte. Als ich fortging, hat er noch mit einem Mädchen Flöte gespielt. Das war ungefähr eine Stunde vor Mitternacht.«
»Hoffentlich hat sie ihn bis zum Morgengrauen beschäftigt!« sagte der König und setzte sich wieder.
»Warum sollte Archimedes einen Sklaven behalten, wenn er wußte, daß er nicht loyal ist?« fragte Dionysios.
»Sei doch nicht dumm!« meinte Hieron ungeduldig. »Der Mann hat seiner Familie dreizehn Jahre lang gedient und ihn nach Alexandria begleitet. Offensichtlich ist ihm nie der Gedanke gekommen, daß der Kerl nicht loyal sein könnte! Aber genauso offensichtlich hat er aus irgendwelchen Gründen der Nationalität dieses Sklaven nicht getraut. Um jeden patriotischen Gewissenskonflikt von vornherein auszuschließen, hat er ihn deshalb ausschließlich zu Diensten innerhalb des Haushaltes verpflichtet. Was hätte er denn sonst tun sollen? Schließlich schickst du keinen Menschen, der seit deiner Kindheit zum Haushalt gehört hat, ohne guten Grund in die Steinbrüche!« Erschöpft rieb sich der König übers Gesicht, dann schaute er wieder Dionysios an. »Hoffentlich habe ich unrecht«, wiederholte er düster.
Marcus war erst eine halbe Stunde wieder im Haus, als die Wache an die Tür klopfte.
Er war im Morgengrauen zu Hause angekommen. Nachdem er durch die Tür geschlüpft war, die er vorsichtshalber nicht verriegelt hatte, hatte er seinen Werkzeugkorb verstaut und war dann, wie immer, direkt an seine erste Tagesarbeit gegangen: ans Latrinenreinigen. Mitten bei dieser Arbeit hörte er das Klopfen und dann die aufgeregt schrille Stimme von Sosibia, die einem Mann Antwort gab. Einen Augenblick blieb er wie erstarrt an Ort und Stelle stehen und hörte zu, dann erhob er sich, wusch sich sorgfältig die Hände und trat in den Innenhof hinaus, wo sich bereits der restliche Haushalt versammelte.
Archimedes war aus dem Tiefschlaf völlig verkatert aufgewacht und stolperte mit Kopfschmerzen die Treppe herunter. Er hatte in seiner schwarzen Tunika geschlafen, die nun völlig verknittert war. Ihm war übel. Verblüfft musterte er Agathon und den Anführer der halben Reihe aus der Ortygia. Sie erklärten ihm, daß während der Nacht zwei römische Gefangene entflohen waren und sich vielleicht irgendwo in seinem Hause versteckt hätten.
»Wo?« fragte er empört. »Das Haus ist nicht gerade groß, da sollten wir zwei Römer doch bemerkt haben.«
»Herr, wir sollen es auf Anweisung des Königs durchsuchen«, sagte der Reihenführer. »Er war um deine Sicherheit besorgt.«
»Ist ja lächerlich! Du siehst doch selbst, daß hier außer meinem eigenen Haushalt niemand ist!«
Der Reihenführer überblickte prüfend die kleine Gruppe im Hof, die seine Männer in die verschiedenen Türöffnungen gescheucht hatte. Schließlich wanderte sein Blick wieder zu dem zerzausten Hausherrn zurück. »Trotzdem bin ich zur Durchsuchung verpflichtet«, sagte er. »Einer deiner Sklaven kann hierbleiben und uns den Grundriß des Hauses erklären, aber die übrigen Bewohner sollten zu einem Nachbarn gehen, damit ihnen nichts passiert. Glaube mir, Herr, wir haben strikte Anweisungen, keine Unordnung zu hinterlassen.«
»Beim Zeus!« rief Archimedes empört.
»Ich bin überzeugt, daß uns Euphanes gern aufnehmen wird«, meinte Arata beschwichtigend. Sie hatte sich in der Hast einen Mantel als Schleierersatz gegriffen und stand neben Philyra in der Tür zur Werkstatt.
Archimedes machte den Mund auf, um etwas zu antworten, aber Agathon erklärte ihm barsch: »Der König wünscht, daß du sofort zu einer Unterredung mitkommst.«
Archimedes drehte sich um und funkelte ihn wütend an. »Nein«, erklärte er rundheraus, »delischer Apollon, allein diese Anmaßungl Jagt da meine Familie aus unserem eigenen Haus und erwartet, daß ich angelaufen komme, wenn er in die Hände klatscht! Wenn Hieron meint, ich sei sein Privatbesitz, dann wird er mich bald von einer anderen Seite kennenlernen!«
Arata schnappte nach Luft und ließ den Schleier fallen. Der königliche Türhüter lief vor Empörung knallrot an und richtete sich zu seiner vollen, wenn auch nicht besonders eindrucksvollen, Größe auf.
Aber noch ehe er etwas sagen konnte, schlug Archimedes erneut wütend zu. »Das ist mein Haus, und ich habe dich nicht hereingebeten! Hinaus!«
Der Reihenführer schaute Agathon ratsuchend an, aber der brachte nur ein Stottern heraus. Da wanderte sein Blick wieder zu Archimedes zurück. Ihm fiel ein, wie sehr der König diesen Mann geehrt hatte, und er beschloß, daß jetzt eine versöhnliche Taktik angebracht war. »Herr«, sagte er, »dies alles geschieht aus Sorge um deine Sicherheit, und nicht weil.«
»Auf Anweisung des Königs soll ihm ferner dein Diener Marcus unter Bewachung vorgeführt werden«, erklärte Agathon, der seine Stimme wiedergefunden hatte.
»Das ist.«, setzte Archimedes an, aber dann schaute er zu Marcus hinüber und brach ab. Obwohl das Gesicht des Sklaven regungslos und starr wie eine Tonmaske war, wußte er sofort, daß die angedeutete Anklage wahr war. Verwunderlich war nur, daß er sich weder verwirrt noch überrascht zeigte. Der Reihenführer erzählte noch immer etwas von der königlichen Sorge um seine Sicherheit.