Mit erhobener Hand gebot Archimedes Schweigen. Der Reihenführer hielt inne. Plötzlich herrschte eine Stille, die wie ein fallender Stein immer schwerer wurde. Er und Marcus schauten einander an. »Sind sie hier?« fragte er schließlich. Die Worte tropften in die Stille.
»Nein«, antwortete Marcus mit rauher Stimme. »Laß sie suchen.«
Archimedes betrachtete ihn noch einen Moment lang. Als Marcus ihm in die Augen schaute, spürte er zum ersten Mal, daß er die volle Aufmerksamkeit seines Herrn hatte. Bisher hatte er immer nur vage etwas hinter oder neben ihm fixiert. Erst jetzt konzentrierte sich die geballte geistige Energie, die sich hinter diesen Augen verbarg, voll und ganz auf jenen Platz im stillen Hof, wo er stand. Im Vergleich dazu wirkt die Schußöffnung eines Drei-Talenters geradezu harmlos, dachte er.
»Waren sie hier?« fragte Archimedes ruhig.
Marcus zögerte, dann - nickte er. »Letzte Nacht«, flüsterte er. »Als du von deinem Essen zurückkamst, waren sie schon da. Sie haben sich im Eßzimmer versteckt, bis es wieder ruhig war. Jetzt sind sie weg.« Dem ganzen Haushalt zuliebe, besonders aber für das Mädchen, das ihn erstaunt und schockiert zugleich beobachtete, richtete er sich auf und fuhr fort: »Einer davon ist mein Bruder. Ich habe ihm geholfen, weil ich dazu verpflichtet war, aber zuvor hat er mir schwören müssen, daß niemandem in diesem Hause auch nur ein Haar gekrümmt wird. Er hat mich beschworen, mit ihm zu fliehen, aber ich habe es abgelehnt. Ich wollte nicht am Angriff auf Syrakus beteiligt sein. Ich bin bereit, die Folgen meiner Tat auf mich zu nehmen.«
»Wo sind sie?« wollte der Reihenführer wissen.
»Schon nicht mehr in der Stadt«, antwortete Marcus stolz. »Inzwischen müßten sie bereits wieder in ihrem eigenen Lager sein. Du kannst so viel suchen, wie du willst, du wirst sie nicht mehr finden.«
»Du wirst mit uns kommen, wie es der König befohlen hat«, sagte der Reihenführer. Sofort senkte Marcus zustimmend den Kopf.
»Ich werde - auch mitkommen«, sagte Archimedes heiser.
Er ging über den Hof zu seiner Mutter, nahm sie in die Arme und küßte ihre Wange. »Mach dir keine Sorgen«, erklärte er ihr. »Die Männer sollen ruhig das Haus durchsuchen. Allerdings wäre es meiner Ansicht nach unsinnig, Euphanes zu dieser morgendlichen Stunde zu belästigen. Bleib hier und vergewissere dich, daß sie nichts mitnehmen. Und sieh zu, daß sie nicht frech werden.« Sein Blick wanderte von Arata zum Reihenführer hinüber. Was nun kam, war an die ganze Truppe gerichtet: »Schließlich sind wir keine unbedeutenden Leute.«
Sie überließen den Reihenführer seiner Hausdurchsuchung und brachen Richtung Ortygia auf: Agathon, Archimedes und Marcus. Letzterer ging zwischen zwei Wachleuten, aber auf Drängen von Archimedes nicht gefesselt. Obwohl Agathon keinen Ton sagte, drückte jeder Muskel an seinem kerzengeraden Rücken und jeder Seitenblick aus seinem säuerlich verkniffenen Gesicht seine totale Mißbilligung aus. Während Marcus mit gesenktem Kopf schweigend dahinging, spürte er jeden einzelnen dieser Blicke wie ein Fingerschnalzen auf seinem Gesicht. Aber noch mehr schmerzten ihn die unglücklichen, besorgten Blicke von Archimedes.
Als sie zur Villa des Königs kamen, fanden sie Hieron und Dionysios noch immer im Bankettsaal vor. Bei ihrem Eintritt sprang der König hoch und strahlte Archimedes an. »Dir gute Gesundheit und Dank den Göttern!« rief er, während er zum Händeschütteln herüberkam. »Verzeih mir, falls ich dich unnötigerweise gestört haben sollte, aber.«
»Der Sklave hat bereits gestanden«, unterbrach ihn Archimedes barsch. »Er sagt, er habe die beiden Gefangenen letzte Nacht aus der Stadt geschmuggelt.«
Hieron wandte sich zu Marcus. Noch immer lagen Spuren des Lächelns, das er Archimedes geschenkt hatte, auf seinen Lippen, aber die Augen hatten längst einen völlig anderen Ausdruck angenommen. »Wie?« fragte er.
Marcus räusperte sich. »Ich habe sie an der Stelle abgeseilt, wo die Seemauer ins Landesinnere abbiegt. Auf diesem Abschnitt gibt es nur einen Wachtposten, und der ist nicht heruntergekommen, um die ebenerdige Katapultplattform zu überprüfen. Da kein Mond schien, mußten wir lediglich abwarten, bis er außer Reichweite war.« Er schaute Archimedes an. »Ich habe mir den Kran ausgeborgt, den du gebaut hast, als ich das letzte Mal das Dach neu gedeckt habe. Den mit der Winde, mit der man Sachen festhalten kann. Weißt du noch? Wir haben sie an der Schießscharte verankert, und dann habe ich Gaius im Ziegelkorb abgeseilt. Er hatte sich einen Arm und mehrere Rippen gebrochen und hätte unmöglich selbst am Seil hinunterklettern können. Fabius ist einfach hinter ihm hergerutscht. Dann habe ich den Korb wieder hochgezogen, die Winde abgemacht und bin nach Hause gegangen.«
»Warum?« fragte der König sanft. Seine klaren, dunklen Augen ruhten mit einem undurchschaubaren Ausdruck auf Marcus.
Marcus straffte die Schultern. »Einer der entflohenen Männer ist mein Bruder. Gaius Valerius, Sohn des Gaius, aus dem Stammtribus der Valerien«
»Ein römischer Bürger«, sagte der König.
»Ja«, sagte Marcus, »auch ich war einmal Römer.« Er warf einen kurzen Blick auf die verschiedenen Gesichter, die ihn umringten: das mißbilligende des Türhüters, Archimedes’ wie vom Donner gerührt und unglücklich, Dionysios und die beiden Wachen waren wütend und verwirrt und der König - undurchschaubar. Es hatte keinen Sinn, irgend etwas zu verheimlichen, also konnte er genausogut weitersprechen. Selbst ohne sein Geständnis hätten sie gewußt, was er getan hatte. Man hatte die Wache zu ihm geschickt, also mußte sich jemand an seinen Besuch im Steinbruch erinnert haben. »Ich habe zufällig gesehen, wie man die Gefangenen in die Stadt marschieren ließ. Dabei habe ich Gaius wiedererkannt, und auch er hat mich gesehen. Ich konnte ihn nicht einfach so gehen lassen. Er war verwundet, und - ich konnte ihn nicht mit dem Gedanken fortlassen, daß ich alles vergessen hätte, was ich einmal gewesen war. Also bin ich am nächsten Tag zu ihm gegangen, um mit ihm zu reden. Aber das wißt ihr ja schon. Fabius, der zweite Mann, lag direkt neben Gaius und hat unser Gespräch mitgehört. Deshalb mußte ich auch ihn beteiligen.«
»Ich weiß noch nichts davon«, sagte Archimedes wie betäubt.
»Das stimmt«, bestätigte Marcus und schaute wieder zum König zurück. »Königlicher Herr, vermutlich hast du es ja schon gemerkt, aber ich kann es nur bestätigen: Archimedes hatte von der ganzen Sache keine Ahnung. Ich habe ihm nicht einmal erzählt, daß ich Römer war.« Er wandte sich wieder an seinen Herrn. »Herr, ich habe der Wache im Steinbruch erzählt, daß ich dein Sklave bin und du mich geschickt hättest, um zu prüfen, welcher Steinbruch das beste Material für den Drei-Talenter liefern würde. Sie haben mich sofort hineingelassen. Dann bin ich zur Hütte hinaufgegangen und habe mit Gaius durch die Wand geredet. Er hat mich gebeten, ihm bei der Flucht zu helfen. Ich habe ihm erklärt, daß er am jetzigen Ort besser aufgehoben sei, aber er hat’s nicht geglaubt. Man hat ihnen eine Menge dummer Geschichten über dich erzählt, königlicher Herr«, fügte er, zu Hieron gewandt, entschuldigend hinzu.
»Wirklich?« fragte Hieron. »Und welche dummen Geschichten?«
Marcus zögerte, aber der König sagte: »Bitte! Ich werde dich nicht dafür tadeln, wenn du ihre Worte wiederholst. Ich würde es nur liebend gerne wissen.«
»Sie haben dich mit Phalaris von Akragas verwechselt«, sagte Marcus peinlich berührt. »Sie haben mir erklärt, du würdest Menschen bei lebendigem Leibe in einem Bronzestier kochen. Und dann haben sie noch behauptet, du hättest Leute pfählen lassen.«
»Ts, ts«, machte Hieron. »Gibt es jemand Speziellen, den ich gekocht oder gepfählt haben soll, oder habe ich meine Opfer wahllos ausgesucht?«
»Meines Wissens sollst du deine Gegner gekocht haben«, sagte Marcus, der immer verlegener wurde. »Und ihre Frauen und Kinder hast du gepfählt. Wenn ich mich recht erinnere, war von Hunderten die Rede. Ich habe Gaius erklärt, alles sei nur erlogen, aber, wie gesagt, er hat es mir vermutlich nicht richtig geglaubt. Sein Freund hat mir erklärt, ich sei schon ganz griechisch geworden. Dabei haben sie weder von Griechen eine Ahnung, geschweige denn von Syrakus.«