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»Zerbrich dir nicht den Kopf«, meinte Marcus. »Das werde ich nicht.«

2

Die Achradina war ein alter Stadtteil. Die erste griechische Kolonie von Syrakus hatte sich auf dem Kap Ortygia angesiedelt, und noch immer war die Ortygia - ein prächtiger, ringsum befestigter Bezirk aus Tempeln und öffentlichen Bauten mit einer eigenen Garnison -der Sitz des Regenten. Auch die Achradina war schon früh entstanden, als die Häuser und Läden der ständig wachsenden Stadt den Rahmen der dichtbevölkerten Zitadelle sprengten und sich wild an der Küste entlang ausbreiteten. Als die Stadt dann noch reicher und mächtiger wurde, hatte man zum Landesinneren hin für die Reichen die Neapolis angelegt, während das Tychaviertel, ein ungeordnetes Häusergewirr entlang der nördlichen Ausfallstraße, zum Siedlungsgebiet der Armen wurde. Die Achradina gehörte der alten Mittelschicht. Mit ihren schmalen, schmutzigen Straßen, begrenzt von den Mauern, die Syrakus gegen einen Angriff vom Meer her schützten, war sie das wahre Herz von Syrakus - dunkel, verwinkelt und voll köstlicher Geheimnisse.

Fröhlich spazierte Archimedes hindurch. Normalerweise ruft ein Stadtstaat bei seinen Bürgern einen ungewöhnlich intensiven, leidenschaftlichen Sinn für Patriotismus und Bürgerstolz hervor. Selbst bei Archimedes, der in seiner eigenen Stadt immer eine Art Außenseiter gewesen war. Jede staubige Kreuzung kam ihm wie der Inbegriff des ruhmreichen Syrakus vor. Und außerdem brachte ihn jeder Schritt näher nach Hause. Eifrig registrierte er alle vertrauten Punkte: den kleinen Park mit seinen ungepflegten Platanen, den Bäckerladen um die nächste Ecke, wo seine Familie ihr Brot kaufte, den öffentlichen Brunnen mit der Löwenstatue, der den Haushalt mit Wasser versorgte. Aus der Garküche weiter unten in der Straße drang ein Duft nach Kräutern und gebratenem Fleisch herüber. Wie oft hatte er dort das Abendessen geholt, wenn zu Hause aus irgendeinem Grund keines gekocht worden war. Das Haus von Nikomachos, der Laden vom Metzger Euphanes mit der Wohnung darüber, dann - endlich -tauchte es auf. Archimedes blieb mitten auf der Straße stehen und starrte stumm die schlichte Ziegelfassade mit ihrer verwitterten, schmalen Haustür an. Da wurde es ihm in der Brust zu eng, und seine Augen brannten. Dieses Haus hatte einst den Inbegriff des Wortes Haus verkörpert. Es war das einzig wichtige Haus gewesen, der Mittelpunkt des Universums, der alles enthielt, was für seine kleine Welt wichtig war. Und eines stand noch immer fest: Hinter dieser Tür wohnten all die Menschen, die er am meisten liebte.

Er wünschte sich, sie würden in Alexandria leben.

Marcus hob die Fackel und starrte ebenfalls das Haus an. In Gedanken war er wieder bei seiner ersten Begegnung mit diesem Haus, als ihn Phidias in Ketten vom Sklavenmarkt hierhergebracht hatte. Kein Zuhause, redete er sich verbissen ein, nur das Haus, wo ich Sklave hin. Einen Augenblick mußte er an sein eigenes Zuhause in den Hügeln von Mittelitalien denken und an seine Eltern, aber dann verbannte er diese Bilder rasch aus dem Kopf. Vermutlich waren sie inzwischen sowieso schon tot. Ihm fiel auf, daß einige Ziegel am Haus von Phidias bröckelten und das Dach neu gedeckt werden mußte. Kein Wunder, schließlich war er der einzige Mann im Haushalt gewesen. Natürlich gab’s da noch, wenn man so wollte, den Herrn, aber wenn’s ums Dachdecken ging, konnte man mit ihm nicht rechnen. Das Anwesen mußte ganz schön heruntergekommen sein. Viel Arbeit wartete auf ihn.

Gelon, der Sohn des Bäckers, war mitgekommen, um auf den Esel seines Vaters aufzupassen. Jetzt scharrte er verlegen mit den Füßen und fragte: »Ist es das?«

Sie luden den Esel ab und stellten die Truhe auf den Boden, dann schickten sie den Bäckerssohn zusammen mit seines Vaters Tier nach Hause und gaben dem Kind zur besseren Sicht noch die Fackel mit auf den Weg. Archimedes atmete tief die laue Sommernachtsluft ein und klopfte an die Tür.

Lange Zeit rührte sich nichts, bis Archimedes noch einmal klopfte. Endlich ging die Tür einen Spalt weit auf, und eine Frau lugte ängstlich heraus. Das Licht der Lampe, die sie in der Hand hielt, zeichnete tiefe Schatten auf ihr müdes Gesicht. »Sosibia!« rief Archimedes und strahlte übers ganze Gesicht. Die Wirtschafterin sperrte den Mund auf, dann schrie sie: »Medion!« Drei Jahre hatte er diesen vertrauten Kosenamen nicht mehr gehört, der aus der Verkleinerungsform seiner letzten Namenssilbe bestand.

Das Wiedersehen verlief genauso stürmisch und fröhlich, wie es sich Archimedes ausgemalt hatte. Seine Mutter Arata lief herbei und schlang die Arme um ihn, und anschließend drückte ihn seine Schwester Philyra fest an sich. »Du bist aber groß geworden!« stellte er fest, während er sie mit ausgestreckten Armen bewundernd von sich weg hielt. Bei seiner Abreise war sie dreizehn gewesen, jetzt war sie eine sechzehnjährige, junge Frau, die sich trotzdem wenig verändert hatte: schmal, hochgewachsen, schlaksig und mit strahlenden Augen. Ihre ungebärdige, braune Mähne hatte sie am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden. Sie stieß seine Hände weg, um ihn umarmen zu können. »Du hast dich ganz und gar nicht verändert!« gab sie zurück. »Schaust immer noch so schlampig aus wie eh und je!« Sosibia und ihre beiden Kinder trieben sich grinsend im Hintergrund herum und gaben ihre Kommentare ab. Einer allerdings fehlte. »Wo ist Papa?« fragte Archimedes. Der Lärm verstummte.

»Er ist so krank, daß er nicht mehr stehen kann«, sagte Philyra in die plötzliche Stille hinein. »Schon monatelang hat er nicht mehr aus seinem Bett aufstehen können.« Schwere Vorwürfe schwangen in ihrer Stimme mit. Seit Monaten pflegte sie ihren Vater und mußte zusehen, wie er immer schwächer wurde, während sich Archimedes, der Augenstern und einzige Sohn, in Alexandria herumtrieb.

Betroffen starrte Archimedes sie an. Er hatte gewußt, daß sein Vater krank war. Schon einige Monate spukte diese düstere Erkenntnis in seinem Hinterkopf herum und überschattete sorgenvoll sämtliche Vorbereitungen für die Heimreise. Aber trotz allem hatte er erwartet, er würde seinen Vater mehr oder weniger im selben Zustand wie bei der Abreise vorfinden. Dauerhusten, ein böser Rücken oder chronische Magenverstimmung - mit solchen Krankheiten hatte er gerechnet, aber nicht mit einem grausamen Schreckgespenst, das sich im Haus eingenistet und seinen Vater ans Bett gefesselt hatte.

»Tut mir leid, mein Schatz«, sagte seine Mutter Arata liebevoll, die seit jeher die Friedensstifterin in der Familie gewesen war, die ruhige Stimme der Vernunft. Sie war kleiner als ihre Kinder, hatte breite Hüften und kräftige Augenbrauen. Ihr Sohn konnte sich nicht erinnern, daß ihre Haare so grau gewesen waren. »Ich fürchte, es wird ein großer Schock für dich sein, wenn du ihn siehst. Du kannst nicht gewußt haben, wie krank er wirklich ist. Trotzdem danke ich den Göttern, daß du endlich sicher zu Hause bist.«

»Wo ist er?« flüsterte Archimedes heiser.

Man hatte Phidias und sein Krankenbett in jenes Zimmer gestellt, das Archimedes von früher als Arbeitszimmer seiner Mutter gekannt hatte. Es lag am entgegengesetzten Ende des kleinen Innenhofes, der sich zur Straße hin öffnete und das Zentrum des Hauses bildete. Die Treppe zu den Schlafräumen im Oberstock war steil und eng, schon deshalb war ein ebenerdiges Zimmer für einen Schwerkranken viel bequemer. Als Archimedes zu dem früheren Arbeitszimmer hinüberging, sah er, daß man eine Lampe angezündet hatte. Sein Vater hatte sich aufgesetzt und schaute erwartungsvoll zur Tür. Der Lärm war bis zu ihm gedrungen, und jetzt wartete er ungeduldig auf das Erscheinen seines Sohnes. An der Türschwelle stockte Archimedes. Phidias war immer ein großer, schmaler Mann gewesen, aber jetzt war er nur noch ein Skelett. Seine weißen Augäpfel hatten sich gelb verfärbt und starrten ihn aus tiefen Höhlen an. Auch seine zerknitterte, trockene Haut hatte eine gelblichen Ton. Ein Großteil seiner Haare war ausgefallen und der klägliche Rest ganz weiß. Als er die Arme nach seinem Sohn ausstreckte, zitterten seine Hände.