»Aha, Tod!« rief der König, lehnte sich auf die Liege zurück, legte die Beine hoch und überkreuzte sie. »Phalaris von Akragas, bin ich das? Weißt du, Archimedes, ich habe mich schon immer über diesen Bronzestier gewundert. Geht das technisch überhaupt? Ich meine nicht das Gießen einer hohlen Statue, sondern den ganzen Rest: daß man die Schreie der Opfer zu einem Stiergebrüll verzerrt hat.«
Archimedes blinzelte. »Technisch ist es möglich, Klänge zu verzerren, ja, natürlich. Aber.«
»Also könnte es diese Statue doch gegeben haben? Was für eine Schande. Keine Angst, ich werde dich nicht bitten, mir eine zu bauen! Marcus Valerius, wofür sollte ich dich zum Tode verurteilen? Ein braver Mann ist wegen deines Verhaltens gestorben - aber du hast ihn nicht selbst getötet, ja, du hast eindeutig seinen Tod nicht gewollt und warst bei dem Mord nicht anwesend. Man könnte dir höchstens anlasten, daß du eine Mordwaffe zur Verfügung gestellt hast, was aber üblicherweise nicht als Kapitalverbrechen gewertet wird. Es ist auch kein Kapitalverbrechen, wenn man einen Verwandten aus dem Gefängnis befreit. Und sonst hast du dir, soweit ich weiß, nichts zuschulden kommen lassen. Gewiß, du hast das Vertrauen deines hervorragenden Herrn mißbraucht und sein Haus in Gefahr gebracht, aber er scheint eher dazu zu neigen, für dich zu bitten, als dich anzuklagen. Und da ich nicht Phalaris von Akragas bin, werde ich dich auch nicht wegen Verbrechen zum Tode verurteilen, für die du vor Gericht eine leichtere Strafe erhalten würdest.
Deine Vergehen sind zwar keine Kapitalverbrechen, wiegen aber dennoch schwer. Welche Strafe du dafür verdienst, hängt allerdings von deinem Status ab. Und der ist, wie gesagt, fraglich. Du behauptest, ein römischer Bürger zu sein. Archimedes behauptet, du seist sein Sklave. Wenn du als Sklave deinen Herrn getäuscht, deine Stadt verraten und dem Mord an einem Bürger Vorschub geleistet hast, müßte man dich auspeitschen und zur Arbeit in die Steinbrüche schicken. Hingegen bist du als Römer ein Staatsfeind. Damit hängt deine Behandlung einzig und allein von der militärischen Oberhoheit von Syrakus ab, mit anderen Worten - von mir.« Er schaute sich prüfend im Raum um, ob irgendeiner damit nicht einverstanden war. Als sein Blick Archimedes traf, hielt er einen Moment inne.
»Ich ziehe meine Ansprüche auf diesen Mann zurück«, sagte Archimedes leise mit unsicherer Stimme. »Oder ich werde ihn nötigenfalls freilassen. Er ist in deinen Händen, mein König.«
Zum Zeichen seines Einverständnisses senkte Hieron den Kopf. »Ich denke, es genügt, wenn du deine Ansprüche zurückziehst. Möchtest du eine Entschädigung für ihn? Wieviel hat er gekostet?«
»Ich will keine Entschädigung.«
Erneut ein Nicken, dann wandte sich der König wieder an Marcus: »Marcus Valerius, Sohn des Gaius, vom Stammtribus der Vale-rier in der Stadt Rom, du hast zwei Landsleuten zur Flucht aus dem Gefängnis verholfen, wo man sie eingesperrt hatte. Meines Erachtens ist es nur recht und billig, wenn du ihren Platz im Gefängnis einnimmst und dann mit deinen Mitbürgern, die bewaffnet gefangengenommen wurden, mit oder ohne Lösegeld ausgetauscht oder entlassen wirst. Solltest du der Meinung sein, daß ich dich auf diese Weise schließlich doch noch zum Tode verurteilen und dein eigenes Volk zu deinem Henker machen würde, dann möchte ich hinzufügen, daß du, soweit es mich betrifft, Appius Claudius gerne über die Verteidigungsmaßnahmen von Syrakus berichten kannst. Nichts, was du erzählst, könnte diese großartige Stadt verletzen. Vielleicht könnte es ihr sogar helfen. Ich hatte sogar tatsächlich geplant, deinen Mitgefangenen genau diese Verteidigungsanlagen zu zeigen, als Heilmittel gegen die Verachtung, die der Konsul offensichtlich uns gegenüber hegt.
Und nun zu Straton, dem Sohn des Metrodoros: Er ist unter den Händen der Feinde von Syrakus gestorben. Hiermit verfüge ich, daß er ein Staatsbegräbnis bekommt und seine Familie finanziell so versorgt wird, als ob er im Kampf gefallen sei. Denn wie alle, die bei der Verteidigung der Stadtmauern sterben, ist auch er während seines Wachdienstes für diese Stadt gefallen.«
Hieron hielt inne und musterte prüfend die Anwesenden. Archimedes neigte sofort den Kopf. Dionysios zögerte und wollte offensichtlich Einwände erheben, aber nach einem Seitenblick auf Archimedes verzichtete er. Jetzt nickte auch Hieron befriedigt. »Bringt den Gefangenen anstelle seines Bruders in den Steinbruch«, befahl er den beiden Wachsoldaten. »Hauptmann Dionysios, was den Verantwortlichen für diesen Vorfall betrifft, so widerspreche ich voll und ganz deiner Annahme. Im nachhinein können wir feststellen, daß nicht genügend Wachen im Steinbruch waren. Wir haben uns zu sehr auf die Wunden der Gefangenen verlassen. Nimm eine weitere halbe Reihe und verbessere die Situation. Agathon, bitte Nikostratos hierher. Er soll ein paar Briefe schreiben. Ich muß unbedingt die Wache an der Seemauer verdoppeln. Archimedes.« Der König zögerte. »Vielleicht möchtest du zum Frühstück bleiben?«
Archimedes schüttelte den Kopf.
»Dann betrachte, bitte, mein Haus als das deinige. Vielleicht möchtest du dich noch vor dem Heimgehen ein wenig ausruhen und sammeln.«
Die Wachen brachten Marcus hinaus, der ruhig mitging. Nur sein Gesicht, auf dem sich Scham und Verwirrung widerspiegelten, woll-te ganz und gar nicht zu einem Mann passen, der soeben gehört hatte, daß er aus der Sklaverei befreit und seinen eigenen Leuten zurückgegeben wird. Auch Dionysios ging mit ihm, um die Sicherheitsmaßnahmen für den Steinbruch neu zu regeln. Der Sekretär Nikostratos kam herein, um Hierons Briefe entgegenzunehmen, und Archimedes ging in den Garten hinaus. Er war froh über die Gelegenheit, sich ausruhen und besinnen zu können, ehe er sich wieder auf die Straße wagte. Der ganze Vorfall hatte ihn doch mehr erschüttert und verwirrt, als er es je für möglich gehalten hätte.
Als Delia auf dem Weg zum Frühstück in den Garten kam, saß er neben dem Brunnen und kräuselte das Wasser mit seinen Fingern. Abrupt blieb sie stehen, hielt die Luft an und beobachtete ihn eine Minute stumm.
Seit Hieron seinem außergewöhnlichen Ingenieur Reichtum und Ehre versprochen hatte, hatte eine Möglichkeit in ihr Form angenommen, die sie bisher vollkommen verworfen hatte. Sie hatte nicht gewußt, was sie damit anfangen sollte. Ihr Bruder wollte Archimedes auf alle Fälle in Syrakus halten, aber das hieß noch lange nicht, daß er deswegen seine eigene Schwester mit einem Lehrerssohn aus der Mittelschicht verheiraten wollte. Und dieses Wissen machte sie todunglücklich. Trotzdem flüsterte ihr ein unzuverlässiger Teil ihres Gehirns immer wieder hinterlistig ein, daß Hieron vielleicht unter Zwang doch so eine Heirat akzeptieren würde, auch wenn er sie eigentlich nicht haben wollte. Wenn sie zum Beispiel ihre Liebe zu Archimedes erklären würde, und wenn dann Archimedes damit drohen würde, er würde nach Alexandria gehen, falls Hieron seine Zustimmung zu dieser Verbindung verweigern würde.
Es war wie mit den geheimen Stelldicheins: Sie hätte nie darüber nachdenken dürfen. Sie war ihrem Bruder durch ihre Heirat einen politischen Vorteil schuldig. Es war das einzige, wie sie die vielen Geschenke erwidern konnte. Außerdem hatte er jeden nur möglichen Vorteil verdient. Hieron hatte eine Stadt übernommen, die von den Pyrrhuskriegen erschüttert war, eine bankrotte Stadt, die ihre Flotte und ihre Schätze verloren hatte, eine Stadt, deren Bürger in Aufruhr waren und deren Armee meuterte. Er hatte sie zusammengeschweißt und wieder stark und reich gemacht. Dies war bereits eine außerordentliche Leistung, aber für die Tatsache, daß alles ohne Gewalt oder Ungerechtigkeit vonstatten gegangen war, gab es in der gesamten Geschichte von Syrakus noch keine Parallele. Sie wußte, was sie tun müßte, sie hatte es schon immer gewußt: Sie mußte Archimedes erklären, daß sie einander nicht mehr treffen durften, und sich dann in ihr Schicksal fügen. Aber schon beim bloßen Gedanken an ihn verspürte sie keinen Funken Resignation mehr.