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Aber die andere Idee war genauso entsetzlich: Sie ging zu Hieron und gestand ihm, was sie getan hatte und noch tun wollte, und mußte dann seinen Zorn ertragen oder, was noch viel schlimmer war, seinen verständnislosen Schmerz.

Außerdem hatte sie keine Ahnung, ob Archimedes sie heiraten wollte. Manchmal hatte sie das Gefühl, er würde sie lieben, dann aber wieder kam es ihr vor, als ob er sie als schamlose Person verachten müsse. Die Art, wie sie sich ihm an den Hals geworfen hatte, war ja auch wirklich schamlos gewesen! Ob er tatsächlich vorhatte, nach Alexandria zu gehen? Wollte sie die Fessel sein, die ihn an Syrakus band? Sie hatte Angst, ihn wiederzusehen, Angst, daß er ihren unmöglichen Vorschlag zurückweisen würde.

Schließlich hatte sie beschlossen, sich mit seiner Schwester zu unterhalten. Vielleicht konnte sie auf diese Weise herausbekommen, was er über sie dachte. Aber genau das war eine Katastrophe gewesen. Anscheinend hatte Philyra noch gar nichts von ihr gehört, weder im Guten noch im Bösen, und obendrein hatte sie sie nicht gemocht. Der Grund dafür war ihr nicht recht klar, aber vermutlich hatte es, wie sooft bei ihr, daran gelegen, daß sie das Gespräch falsch geführt hatte. Königin Philistis war mit dieser Einladung ganz und gar nicht einverstanden gewesen, obwohl sie zugeben mußte, daß daran absolut nichts ungebührlich gewesen war. Während des Besuches von Philyra war sie die ganze Zeit über im Zimmer gewesen und hatte jedesmal die Stirn gerunzelt, wenn der Name Archimedes fiel. Philistis war mit Archimedes insgesamt nicht einverstanden. Sie hielt ihn für einen eingebildeten, jungen Mann, der längst mit mehr Respekt behandelt wurde, als ihm gebührte, und dem es nicht zustand, ihren Mann am Ende eines besonders aufreibenden Tages zu belästigen und ihm dann auch noch Betrug zu unterstellen. Nur weil Hieron die Beziehung zu diesem Mann unbedingt aufrechterhalten wollte, machte Philistis das Spiel mit, aber trotzdem konnte sie ihn nicht leiden.

Und jetzt war Archimedes persönlich hier. Zerknittert und müde starrte er traurig ins Brunnenbecken, während rings um ihn das frühe Morgenlicht zarte Schatten durch die Blätter des Gartens warf.

Als Delia vortrat, schaute er auf. Er war nicht überrascht, sondern blinzelte sie nur zerstreut an. In Gedanken war er immer noch bei

dem, was er dort im Wasser betrachtet hatte.

»Gute Gesundheit!« sagte sie und bemühte sich, ihre Stimme ruhig zu halten. »Was führt dich so früh hierher?«

Bei dieser Bemerkung machte er eine Grimasse, zog die Schultern hoch und stand auf. »Nichts Angenehmes«, erzählte er unglücklich, »mein Sklave Marcus hat zwei römischen Gefangenen bei der Flucht geholfen. Einer der Wachsoldaten wurde dabei getötet, ein Mann, den ich kannte, ein guter Mann.«

»Ach, bei den Göttern!« rief sie betroffen, dann fügte sie rasch hinzu: »Ich bin überzeugt, daß dir mein Bruder keinerlei Schuld am Verhalten deines Sklaven gibt.«

Er schüttelte den Kopf, aber seine verkrampfte Haltung blieb unverändert. »Er wird anstelle der Gefangenen eingesperrt - Marcus, meine ich -, obwohl Hieron angedeutet hat, man würde ihn mit den anderen Römern austauschen oder freilassen. Ich - schäme mich.«

»Du bist doch nicht schuld daran, wenn ein Sklave etwas Böses tut!«

Er schüttelte den Kopf. »Damit hat es gar nichts zu tun! Ich habe Marcus zuvor noch nie richtig wahrgenommen, er war einfach immer nur da. Dabei ist er wirklich ein ganz außergewöhnlicher Mensch. Eigentlich ist er ja römischer Bürger und hat diesen Männern zur Flucht verholfen, weil einer von ihnen sein Bruder ist. Er hätte ebenfalls fliehen können, was er aber nicht getan hat, weil er Syrakus nicht verraten wollte. Und ich habe jetzt begriffen, daß dies völlig zu ihm paßt. Er fühlte sich gegenüber seinem Bruder genauso verpflichtet wie gegenüber Syrakus. Also hat er beide Verpflichtungen so gut wie möglich erfüllt. Dann ist er dagestanden und hat erwartet, daß er dafür sterben muß. Er hat sich nicht einmal darüber beklagt. Er war immer absolut ehrlich und gewissenhaft. Das hätte mir unbedingt auffallen müssen, aber ich nehme die Leute selbst dann nicht wahr, wenn sie mir direkt vor den Augen stehen. Ich habe doch nur Augen für die Mathematik.«

Sie wußte nicht recht, was sie darauf antworten sollte. So ging sie nur zum Brunnen hinüber und setzte sich auf den Rand. »Vermutlich ist Mathematik etwas Rationales und Menschen nicht«, sagte sie.

Er schnaubte reumütig. »Kennst du das Lied der Sirenen?

>Lenke dein Schiff ans Land und horche unserer Stimme. Denn hier fuhr noch keiner im schwarzen Schiffe vorüber, Eh’ er dem süßen Gesang gelauscht aus unserem Munde, Dann aber scheidet er wieder, beglückt, und weiß um ein Neues. Denn wir wissen dir alles, Wissen, was irgend geschieht auf der vielernährenden Erde!<«

Mit gedämpfter Stimme fuhr er fort:

»>Also riefen mir süß die Singenden, daß mir das Herz schwoll, Länger zu lauschen, und mich zu lösen, hieß ich die Freunde, Doch sie legten nur noch mehr Fesseln an und banden mich Stärker<.

Mathematik ist wie eine Sirene, schätzungsweise ist es gut, daß sich ein Großteil der Welt die Ohren mit Wachs verstopft hat und sie nicht hören kann. Das klingt jetzt, als ob ich mich dafür schämen würde, aber ändern werde ich mich trotzdem nicht. Sobald sie wieder für mich zu singen anfängt, werde ich jeden und alles vergessen.«

Lange Zeit versank sie in Schweigen und dachte über ihn und sich und über ihren Bruder nach. Schließlich wiederholte sie leise: »Ketten - weißt du, Hieron hat davon gesprochen, dich an Syrakus anzuketten. Ist dir dieser Gedanke verhaßt?«

Er antwortete nicht sofort. Als ihn Hieron heute morgen zu sich zitiert hatte, war er sich wie ein Sklave vorgekommen. Er hatte sich verraten gefühlt. Das Ausmaß seiner Empörung darüber hatte ihn selbst erstaunt. Er hatte gar nicht realisiert, wie sehr er bereits in dem Glauben gelebt hatte, er würde in Syrakus bleiben und mit dem König zusammenarbeiten. Mit dem König - das war der springende Punkt. Nicht für ihn. Früher hatte er es für unvermeidlich gehalten, unter dem Befehl eines anderen Mannes zu stehen, und hatte sich bereits mehr oder weniger damit abgefunden. Aber je mehr er seine eigene Macht schätzen gelernt hatte, um so mehr war diese Resignation abgebröckelt. Die Art und Weise, wie ihn Hieron zu steuern versucht hatte, hatte ihn beeindruckt. Er hatte es nicht gemocht, aber interessant war es dennoch gewesen und auf seine Weise so elegant wie ein geometrischer Beweis. Er hatte es als klares Signal dafür gewertet, daß der König in Wahrheit die Kunst der Überredung bevorzugte und nicht das Dekret. Außerdem hatte er allmählich eine gewisse Sympathie für Hieron selbst entwickelt: für seinen Scharfsinn, die rasche Auffassungsgabe und seine effiziente Reaktion und für seinen guten Humor. Und dann war da noch Delia. Sie war es wert, in Syrakus zu bleiben - falls er sie bekommen konnte. Und über diese Möglichkeit dachte er inzwischen immer intensiver nach. Schließlich hatte ihm Hieron fast alles versprochen.

Aber vielleicht war das nur wieder ein neuer Trick? Die Position, die Hieron für ihn erfunden hatte, hatte ihn deutlich mehr beeindruckt als irgendein simpler Vertrag, den er in Ägypten bekommen konnte. Aber was dann, wenn es in Wirklichkeit etwas deutlich Geringeres war? Wenn es nur eine Vortäuschung falscher Tatsachen war, um ihn zu betrügen? Wäre er ein Freund und Ratgeber des Königs auf gleicher Basis oder - nur ein bezahlter Dienstbote?

»Ich stehe tief in der Schuld deines Bruders«, sagte er endlich langsam, »und vermutlich möchte er mich genau dort haben. Aber nichts von dem, was er mir bisher gegeben hat, könnte ich nicht zurückzahlen - nicht einmal das Leben von Marcus. Was ich konstruieren kann, ist sehr viel wert, also mache ich mir da auch keine Gedanken. Ketten. Nun ja.« Stirnrunzelnd betrachtete er seine eigenen, flachen, grobknochigen Handgelenke, als ob er Fesseln betrachten würde. »Sirenen fressen Menschen. Odysseus konnte ihren Gesang nur wegen seiner Ketten überleben. Vielleicht brauche ich sie. Vielleicht muß ich an eine Stadt und an Menschen gebunden sein, die nichts mit Mathematik zu tun haben. Und außerdem würde es überall Ketten geben. Falls mir König Ptolemaios eine Stelle anbieten würde, dann wäre es wegen Wasserschnecken und Katapulten und nicht wegen reiner Mathematik. Also bleibt mir in Wirklichkeit nur die Wahl, für wessen Ketten ich mich entscheide und wie schwer sie sind.«