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Marcus fuhr mit seinem schwieligen Daumen über die Flöte, dann flüsterte er: »Ich will sie, Herr.« Aber plötzlich klopfte sein Herz schneller. Wenn er zu seinem eigenen Volk zurückging, dann mußte das noch lange nicht heißen, daß er alles aufgab, was er gelernt hatte. Warum sollte er nicht Flöte spielen? Mit seinem Vater war er sowieso nie einer Meinung gewesen! »Danke.«

Archimedes lächelte. »Gut. Ich habe drei Rohrblätter in die Schatulle gesteckt, das sollte eine Weile reichen. Solltest du länger hier sein, werde ich dir Nachschub bringen. Oder du kannst dir auch von deinen Wärtern ein paar besorgen lassen. Und sobald du mit dieser Flöte zurecht kommst, wirst du eine zweite wollen. Du kannst selbst entscheiden, welche Stimmlage sie haben soll. Hier ist ein bißchen Geld.« Er deutete vage auf den Lederbeutel.

»Danke«, sagte Marcus erneut. »Herr, es tut mir leid.«

Archimedes schüttelte rasch den Kopf. »Du konntest doch deinen eigenen Bruder nicht im Stich lassen.«

Marcus schaute ihm in die Augen. »Vielleicht nicht. Trotzdem habe ich dein Vertrauen mißbraucht und dich in Gefahr gebracht. Wenn Fabius damals, als du hereinkamst, klargewesen wäre, wer du bist, hätte er dich vermutlich getötet. Ich hätte ihn nie in dieses Haus bringen und ihm nie dieses Messer geben dürfen. Deshalb - verzeih mir.«

Archimedes blickte zu Boden, er wurde rot im Gesicht. »Marcus, mein Vertrauen wurde zu Recht mißbraucht. Weißt du noch, wie wir damals nach dem Bau der Wasserschnecken wieder nach Alexandria zurückgekommen sind? Wie ich dir gesagt habe, du sollst das ganze Geld in unsere Wohnung bringen? Später haben mir meine Freunde erklärt, ich sei ein Idiot, weil ich dir einen derart hohen Betrag anvertraut habe, aber ich bin einfach nie auf den Gedanken gekommen, daß du es stehlen könntest.«

Marcus schnaubte. »Ich schon!«

»Tatsächlich? Nun, warum auch nicht! Schließlich hätte es für dich Freiheit und Unabhängigkeit bedeutet. Aber du hast es nicht gemacht. Du hast es nach Hause getragen und mich dann tagelang bedrängt, bis ich es auf eine Bank gebracht habe. Aber was ich damit sagen wollte: Ich hatte kein Recht, dich mit soviel Vertrauen zu belasten. Das war arrogant von mir. Ich hatte nie etwas getan, um eine derart hohe Loyalität zu verdienen. Ich war ein nachlässiger, leichtsinniger Herr, der sich voll und ganz auf dich verlassen hat. Nie habe ich auch nur im entferntesten daran gedacht, wieviel Anerkennung du dafür verdienst, daß du mich nicht enttäuscht hast. Also -verzeih auch du mir.«

Marcus spürte, wie ihm heiß wurde. »Herr.«, fing er an.

»Du mußt mich nicht so nennen.«

»Selbst vor diesem Morgen stand ich schon wegen vieler Dinge in deiner Schuld. Die Musik ist eines davon, die Mechanik ein anderes. Jawohl, das ist eine Schuld. Ich habe, glaube ich, noch nie so gerne gearbeitet wie beim Bau der Wasserschnecken. Und seit heute morgen schulde ich dir noch mehr. Wenn ich der Sklave eines anderen gewesen wäre, hätte man mich ausgepeitscht und in die Steinbrüche geschickt. Der König hat mich milde behandelt, weil du dich für mich eingesetzt hast. Und das weißt du genausogut wie ich. Ich habe keine Möglichkeit, meine Schuld zurückzuzahlen. Deshalb belaste mich nicht auch noch mit deinen Entschuldigungen. «

Archimedes schüttelte den Kopf, gab aber keine Antwort. Nach einem Moment wechselte er das Thema und fragte: »Möchtest du, daß ich dir zeige, wie man diese Flöte spielt?«

Es folgte eine kurze Lektion im Aulosspieclass="underline" Fingersatz, Atemtechnik und die Positionierung der Metallringe. Marcus spielte zittrig einige Tonleitern, dann saß er da und streichelte das seidige Holz. Allein das Berühren war wie ein Versprechen für die Zukunft. Es verlieh ihm unerwartet Hoffnung.

Archimedes räusperte sich verlegen. »Nun«, meinte er, »ich werde daheim erwartet. Wenn du etwas brauchst, benachrichtige mich.« Marcus öffnete den Mund, aber Archimedes beschwor ihn: »Tu’s nicht! Seit ich ein Kind war, warst du ein Mitglied meines Haushaltes. Verständlicherweise möchte ich dir helfen, wenn ich kann.«

Plötzlich verstand Marcus, warum er sich so betäubt gefühlt hatte. Zum zweiten Mal in seinem Leben verlor er Heim und Familie.

»Bitte sage allen im Haus«, flüsterte er, »wie leid es mir tut. Und richte Philyra aus, ich hoffe, daß sie in ihrer Ehe sehr glücklich wird, ob mit Dionysios oder mit einem anderen. Ich wünsche euch allen eine gute Zeit.«

Archimedes nickte und stand auf. »Ich wünsche dir auch alles Gute, Marcus.« Er wandte sich zum Gehen.

Bei diesem Anblick überwältigte Marcus urplötzlich ein Gefühl größter Dringlichkeit, das fast schon an Panik grenzte. Irgend etwas zwischen ihnen war noch offen. Schon der Gedanke, daß er mit diesem unverdauten Klumpen von Gefühlen zurückbleiben sollte, jagte ihm entsetzliche Angst ein. Er sprang hoch, daß die Fußeisen nur so klirrten, rief »Medion!« und biß sich sofort auf die Zunge. Zum ersten Mal hatte er den familiären Kosenamen verwendet.

Archimedes schien das gar nicht bemerkt zu haben, er schaute nur fragend zu Marcus zurück. In der hereinbrechenden Dunkelheit konnte man seine Miene gerade noch erkennen.

Einen Augenblick lang wußte Marcus nicht, was er sagen sollte, aber dann hielt er ihm die Flöte hin und fragte: »Könntest du mir die Melodie vorspielen, die du letzte Nacht gespielt hast?«

Langsam streckte Archimedes die Hand aus und nahm das Instrument. Er regulierte den Metallring. »Eigentlich brauchte ich dazu auch noch die Sopranflöte«, meinte er entschuldigend. »Ohne die wird’s nicht so klingen.« Trotzdem setzte er die Flöte an die Lippen und intonierte sofort dieselbe liebliche Tanzmelodie, die in der vergangenen Nacht den Innenhof erfüllt hatte.

Die Hütte schien den Atem anzuhalten. Einer der Wächter war fortgegangen, um eine Lampe zu holen. Nun war er wieder da und stand stumm im Mittelgang und lauschte. Ringsherum leuchteten die Augen der Gefangenen im Lampenschein auf. Auch sie wurden von diesem Tanz magnetisch angezogen, bis sich diese unerklärliche Trauer in die Musik schlich und sie verwirrte. Auf einer Einzelflöte klang die Melodie klarer, die Tempi- und Tonlagenwechsel waren präziser zu hören. Aber eines blieb gleich: das Gefühl des Auseinanderbrechens und die Auflösung, die am Ende wie ein Wunder schien. Und zum Schluß ging der vertraute Trauermarsch ganz sanft in Stille über. Einen Augenblick blieb Archimedes mit gesenktem Kopf stehen und betrachtete seine Finger auf den Grifflöchern.

»Und jetzt wünsche ich dir alles Gute«, sagte Marcus leise in die Stille hinein.

Archimedes schaute auf, ihre Blicke trafen sich. Das Ungelöste zwischen ihnen hatte sich wie von selbst gelöst, die Bindungen vertieft. Mit einem traurigen Lächeln gab Archimedes Marcus die Flöte zurück. »Möge dich wirklich nur Gutes erwarten, Marcus Valerius«, sagte er. Der fremde Familienname ging ihm ein wenig zögernd über die Lippen.

»Dich auch, Archimedes, Sohn des Phidias«, sagte Marcus. »Mögen dir die Götter gewogen sein.«

Langsam ging Archimedes vom Steinbruch durch die dunklen Straßen nach Hause. Weil er nicht an Marcus denken wollte, dachte er statt dessen über die Melodie nach, die er gespielt hatte. Ein Lebewohl für Alexandria hatte er es genannt. Es gefiel ihm gar nicht, daß sich sein Inneres anscheinend bezüglich Alexandria entschieden hatte, ohne ihn vorher gefragt zu haben. Und das obendrein, ehe die Sache mit Delia entschieden war. Wenn Delia.

Einen Augenblick verlor er sich in der Erinnerung an Delias Kuß, dann gingen die Gedanken weiter, allerdings wesentlich grimmiger. Er mußte jetzt unbedingt wissen, ob ihn Hieron als Verbündeten betrachtete oder nur als wertvollen Sklaven.

Delia war der Test dafür. Hieron könnte sein Einverständnis zu dieser Verbindung aus vielen, guten Gründen verweigern, falls aber schon die Bitte als Beleidigung aufgefaßt würde, wäre er in Ägypten besser aufgehoben, und wenn er Syrakus dazu bei Nacht und Nebel incognito verlassen müßte.