Zu Hause brannten Lampen im Innenhof, die Familie erwartete ihn: Arata und Sosibia beim Spinnen, die kleine Agatha wickelte Wolle auf, Philyra spielte Laute, und Chrestos saß ohne Beschäftigung unter der Tür. Archimedes war den ganzen Tag nicht zu Hause gewesen. Er hatte lediglich einen von Hierons Sklaven nach Hause geschickt, um der Familie den Vorfall berichten zu lassen und Chrestos anzuweisen, er solle sämtliche Habseligkeiten von Marcus zusammenpacken und zu ihm in die Katapultwerkstatt bringen. Er hatte nicht mit seiner Familie reden wollen, weder über Marcus, noch über Delia - noch nicht. Jetzt warteten alle auf ihn, um mit ihm zu sprechen.
Mit ihrer üblichen Geduld und ihrem klaren Sinn für Prioritäten erkundigte sich Arata zuerst, ob er schon gegessen habe. Als er verneinte, brachte sie ihn ins Eßzimmer und setzte ihm einen Teller Fischeintopf vor. Philyra saß mit roten Augen schniefend am Tisch, stützte die Ellbogen auf und schaute ihm beim Essen zu.
Die Sklaven standen verstört herum, und selbst seine Mutter runzelte besorgt die Stirn. Nach den ersten Bissen gab er auf und begann, ihnen die ganze Geschichte von Marcus zu erzählen.
»Wird’s ihm wieder gutgehen?« fragte Philyra und kaute auf ihren Fingernägeln herum, obwohl ihre Mutter energisch dagegen angekämpft hatte. Jetzt fiel sie nur noch in diese Gewohnheit zurück, wenn sie zutiefst unglücklich war.
»Ich hoffe es«, war alles, was Archimedes dazu sagen konnte. »Hieron hat gesagt, er dürfe gerne jede Frage des römischen Generals beantworten. Und außerdem ist ja noch sein Bruder da, um für ihn einzutreten. Ich würde schon meinen, daß er wieder in Ordnung kommt.« Innerlich war er sich leider nicht so sicher. Eigentlich müßte Marcus wieder in Ordnung kommen - aber er war so kompromißlos ehrlich. Er hatte einem Taraser Söldner nicht den Gefallen getan, für die Zerstörung Roms zu beten, und er würde es auch nicht für die Eroberung von Syrakus tun, nicht einmal einem römischen Konsul zuliebe.
Aber vielleicht würde es der römische Konsul gar nicht verlangen. Man würde Marcus mit achtzig weiteren Gefangenen ausliefern, und dann würde ihn wahrscheinlich sein Bruder im Heer begrüßen und beschützen. Eigentlich müßte er wieder in Ordnung kommen.
»Sie sind Barbaren«, sagte Philyra, der schon wieder die Tränen in den Augen standen. »Die wären in der Lage, ihm alles anzutun! Kann er denn nicht einfach wieder zu uns kommen? Es war doch nicht seine Schuld. Medion, das hast du doch auch dem König erzählt, oder? Ich meine, es war sein eigener Bruder, sonst hätte er nicht.«
»Der König hat bereits große Milde walten lassen«, sagte Arata ruhig. »Deinem Bruder zuliebe, Philyra. Mehr können wir nicht verlangen. Schließlich wurde durch die Tat von Marcus ein Mann getötet.«
Unglücklich räusperte sich Archimedes und sagte dann: »Als ich vor kurzem bei Marcus war, hat er, äh, gesagt, ich soll allen ausrichten, wie leid es ihm tut. Er wünscht uns alles, alles Gute.
Und dann hat er noch gesagt, Philyra, er hofft, daß du sehr glücklich wirst, egal, ob du Dionysios heiratest oder einen anderen.«
Philyra nahm ihre zerkauten Finger aus dem Mund und starrte ihn an. Da begriff er, daß er ihr noch gar nichts von Dionysios erzählt hatte.
»Dionysios hat erst letzte Nacht um deine Hand angehalten«, sagte er zu seiner Verteidigung. »Ich wollte es dir, äh, heute morgen mitteilen.«
Anschließend erzählte er ihr von Dionysios. Es folgte eine beträchtliche Diskussion über den Mann und seinen Antrag, bis man sich schließlich darauf einigte, daß Archimedes den Hauptmann zum Essen einladen würde, damit ihn auch die restliche Familie näher begutachten könne. Aber als die anderen zu Bett gingen, saß Philyra noch eine Weile allein im Hof unter den Sternen und spielte auf der Laute. Ihre Gedanken waren nicht bei Dionysios.
»Ich möchte nicht, daß du schlecht von mir denkst«, hatte Marcus ihr erst letzte Nacht erklärt. »Egal, was passiert, ich habe diesem Haus nie auch nur im geringsten schaden wollen, bitte glaube mir.«
Sie glaubte ihm tatsächlich, und sie dachte nicht schlecht von ihm. Durch sein ruhiges Geständnis hatte das Wort Mut seit heute morgen eine neue Definition für sie bekommen. Sie merkte, daß sie ihn nicht mehr als Sklaven betrachtete. Wenn sie nun an ihn als freien Mann dachte, dann war es ein Mann, den sie liebte. Ein tapferer, ehrenwerter und stolzer Mann, der sie - das erkannte sie inzwischen klar - geliebt hatte.
»Weißt du noch«, sang sie und zupfte sachte die Lautensaiten, »Weißt du noch, als ich zu dir dies heilig’ Wort gesagt?
Vermutlich würde sie ihn bis ans Ende ihres Lebens als etwas in Erinnerung behalten, das auf tragische Weise gescheitert war - eine versäumte Verabredung, ein verlegter Brief, eine Person, die man mit schrecklicher und unwiederbringlicher Konsequenz mißverstanden hat. Aber es war längst zu spät, um das Verwehte zurückzuholen. Die zerpflückten Blütenblätter lagen zerstreut im Staub. Sie spielte noch eine Weile weiter, dann legte sie die Laute weg und ging zu Bett.
In derselben Nacht griff eine römische Streitmacht im Schutze der Dunkelheit die Seemauer von Syrakus an, aber Hieron hatte zusätzlich Wachen aufgestellt. Sie sahen die heimlichen Truppenbewegungen, die sich vor der schimmernden Meeresoberfläche abzeichneten, und schlugen Alarm. Als die Römer entdeckt wurden, hatten sie bereits die Katapultreichweite unterlaufen, waren jedoch schon so nahe am Kliff, daß man sie mühelos direkt von den Mauern aus mit Katapultgeschossen bombardieren konnte. Einigen Zentnern Steinen folgten mehrere Katapultkartätschen, die explodierten und die Angreifer mit brennendem Pech und Öl bespritzten. Kleidung und Körper der Männer fingen Feuer und erhellten die Szenerie. Auf der Flucht vor dem Feuer sprangen viele Römer ins Meer, aber die starke Strömung riß ihnen die Beine weg. Sie ertranken. Die übrigen flohen. Am Morgen konnte man sehen, daß sie Seile und Leitern mitgebracht hatten, die aber für die hohen Klippen jämmerlich zu kurz gewesen waren. Jetzt lagen sie zusammen mit den Leichen über das ganze Geröllfeld am Fuße der Klippen verteilt - darunter auch noch ein paar verwundete Gefangene für den Steinbruch.
In der nächsten Nacht zogen die Römer ab. Die Syrakuser, die weiterhin auf der Nordmauer Wache hielten, sahen, wie sich das Lager abends für die Nacht einrichtete. Die dunklen Stunden über brannten die Lagerfeuer, aber am Morgen war das Heer fort. Zurück blieben nur noch die Feuerstellen und fein säuberliche Abdrücke im Gras, wo die Zelte gestanden hatten.
Hieron schickte seine Späher hinter ihrer Fährte her und außerdem einen Brief an den karthagischen Oberkommandierenden.
Weil sein Sekretär zu so früher Morgenstunde noch nicht in der Villa eingetroffen war, hatte er ihn eigenhändig geschrieben. Er warnte General Hanno vor, daß die Römer vielleicht nun in seine Richtung marschieren würden, und bot ihm an, sie von hinten anzugreifen, falls die Karthager von sich aus den Kampf eröffnen würden. Als die Römer zum ersten Mal vor Syrakus erschienen waren, hatte er schon einmal eine ähnliche Nachricht abgeschickt, in der er die Karthager zu einem ähnlichen Kunststück eingeladen hatte, aber es war keine Antwort gekommen.
Während er den Brief versiegelte, grübelte er darüber nach, wie lange es wohl dauern würde, bis die Karthager begriffen hatten, daß sie angesichts eines Feindes wie Rom auf ein intaktes, starkes Syrakus an ihrer Seite angewiesen waren. Pure Dummheit, dachte er, als er sein Lieblingssiegel ins Wachs drückte, das die rote Briefkordel zusammenhielt. Auch der römische Feldzug war ein Akt von eklatanter Dummheit. Wenn ihnen die Karthager tatsächlich in den Rük-ken gefallen wären, wären sie äußerst übel drangewesen. Außerdem hatten sie Messana nur unter leichter Bewachung zurückgelassen, obwohl dort der überwiegende Teil ihres Nachschubs und ihre gesamten Schiffe lagerten, die sie von Italien herübergebracht hatten. Hätten die Karthager dort während ihrer Abwesenheit einen Sturmangriff gestartet, wäre die gesamte Armee gezwungen gewesen, sich zu ergeben. Diesen Streich hätte Hieron am liebsten selbst ausgeführt: seine eigene Armee auf die eigene Flotte zu verfrachten, einige große Katapulte und Brandsätze auf einzelne Schiffe zu montieren und dann die Küste hinaufzusegeln, mitten in den messanischen Hafen hinein. Und dann - Feuer frei auf die Römerschiffe und die Stadt gestürmt!