Ja, aber das hieße auch, Syrakus zu schwächen, während die Römer noch ungemütlich nahe waren. Und wer wußte schon, wie die Karthager reagieren würden? Sie wollten Messana immer noch für sich. Und das letzte, was sich Hieron leisten konnte, war, sie in ein offenes Bündnis mit Rom hineinzutreiben.
Gut möglich, daß sie längst mit Rom gewisse Abmachungen getroffen hatten. Vielleicht unternahmen sie gegenwärtig nur deshalb nichts, weil sie versprochen hatten, sich in keinen römischen Feldzug gegen Syrakus einzumischen. Aber selbst wenn es ein derartiges Versprechen geben sollte, war und blieb Appius Claudius ein schrecklicher Narr, wenn er sich darauf verließ. Genauso ein Narr wie Hanno, wenn er sich die einzige Chance auf einen Sieg entgehen ließ. Hierons Gesandter war aus Karthago mit der Nachricht zurückgekehrt, daß der karthagische Senat allmählich die Geduld mit seinem General verlor. Es war äußerst dumm von Hanno, zu glauben, er hätte genügend Zeit, nichts zu unternehmen. Dummheit. So wie der ganze Krieg dumm, blind und sinnlos war. Und er war noch längst nicht vorbei, davon war Hieron überzeugt. Diese Gewißheit machte ihn ganz krank. Er warf den versiegelten Brief auf seinen Schreibtisch und klatschte in die Hände, um einen Boten herbeizuholen.
Der Bote kam herein und mit ihm Agathon, der ein Bündel weiterer Tagespost in der Hand hielt. Der Bote nahm den Brief des Königs in Empfang, schwor, ihn innerhalb von drei Tagen an Hanno auszuhändigen, salutierte und marschierte hinaus. Agathon schaute ihm nach, dann legte er die übrigen Briefe auf Hierons Schreibtisch. Hieron nahm sie zur Hand und blätterte sie flüchtig durch. Neben dem Schreibtisch stand ein Lampenständer. Obwohl es Morgen war, machte sich der Türhüter daran, den Docht an einer Lampe zu kürzen und sie anzuzünden. Hieron hielt inne und schaute fragend zu seinem Sklaven hoch.
Wie üblich lächelte Agathon säuerlich. »Du hast gesagt, du möchtest alle Briefe sehen, die für Archimedes aus Alexandria kommen«, bemerkte er. »Gestern kam einer. Ich habe ihn vom Zollbeamten umleiten lassen.« Damit zog er eine kleine, dünne Klinge aus seinem Gürtel und begann, die Messerspitze in der Lampenflamme zu erwärmen.
Hieron sah ganz unten im Bündel nach, fand den entsprechenden Brief und reichte ihn ihm. Schon lange vor seiner Königszeit hatte er es sich gemeinsam mit Agathon angewöhnt, die Post anderer Leute abzufangen. Sollte er darüber je irgendwelche Gewissensbisse empfunden haben, dann waren sie längst verschwunden. Vorsichtig schob Agathon das heiße Messer zwischen Pergament und Wachssiegel, anschließend überreichte er dem König mit einer Verbeugung den Brief. Hieron setzte sich zurück und las ihn. Zu dieser Zeit war es üblich, laut zu lesen, aber zur Enttäuschung seines Sklaven las Hieron fast unhörbar und bewegte kaum die Lippen dabei.
Conon, der Sohn des Nikias von Samos, an Archimedes, den Sohn des Phidias von Syrakus, mit den besten Grüßen.
Liebster a...
Hieron runzelte leicht die Stirn: »Liebster Alpha«. Hatte der Schreiber diese Anrede benutzt, weil es der erste Buchstabe im Namen von Archimedes war - oder weil er gleichbedeutend mit der Nummer eins war?
»Liebster Alpha, Du bist jetzt noch kaum einen Monat fort, aber ich schwöre beim delischen Apollon, daß es mir wie Jahre vorkommt, und obendrein noch leere Jahre mit nichts als nassen Nachmittagen darin. Immer wenn ich eine Flöte höre, muß ich an Dich denken, und seit Deiner Abreise gibt es keinen, der auch nur annähernd etwas Intelligentes über die Tangenten von Kegelschnitten zu sagen hat. Eines schönen Tages hat Diodotos irgend etwas über Hyperbeln gequatscht. Da habe ich ihm erklärt, was du über das Verhältnis gesagt hast. Da hat er sich wie ein Frosch aufgeblasen und mich zu einem Beweis aufgefordert. Natürlich konnte ich das nicht. Statt dessen habe ich ihm aber eine Liste mit Thesen gegeben. Später kam er dann wieder an und meinte, er hätte tatsächlich eine davon bewiesen, was nicht stimmt. Aber davon später noch mehr.
Denn das ist der Hauptgrund für meinen Brief: Ich habe eine Stelle im Museion, und Du kannst auch eine haben! Eigentlich habe ich’s ja Dir zu verdanken, daß ich jetzt meine eigene Stange im Vogelkäfig der Musen habe. Der König hat bei Arsinoiton viel Geld in gigantische, technische Konstruktionen investiert, und als er zur Besichtigung hinaufgefahren ist, fiel sein Blick zuerst auf eine Wasserschnecke. >Was ist denn das?< fragte der König. »Beim Zeus, so etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen!« Und kurz danach hat Kallimachos .«
Der Dichter? überlegte Hieron. Der Leiter der Bibliothek von Alexandria?
».Kallimachos höchstpersönlich schweißgebadet an meine Tür geklopft und gesagt: >Du bist mit Archimedes von Syrakus befreundet, wo ist er? Der König möchte ihn kennenlernen<. Also habe ich ihm erklärt, Du wärest wieder nach Syrakus zurück. Daraufhin hat er beim Hades und der Herrin der Dreiwege (Hekate, A. d. Ü.) losgeflucht (ganz ehrlich! Auch wenn man das einem solchen Dichter und Gelehrten nicht zutrauen würde) und als Ersatz mich zum König geschleift. Ptolemaios hat mich erstaunlich höflich behandelt und zum Essen eingeladen, und anschließend haben wir uns unterhalten. Kallimachos war auch dabei, saß aber nur da, zupfte an seinen Fingernägeln herum und machte den Sklavenjungen schöne Augen. Aber der König versteht wirklich eine Menge von Mathematik - Du weißt ja, Euklid war sein Lehrer. Er hat gemeint, der Ausspruch von Euklid, daß es keinen Königsweg zur Geometrie gäbe, würde schon stimmen. Er wäre damals selbst dabei gewesen. Was ich ihm über die Sonnenfinsternis erzählt habe, hat ihn sehr interessiert, und er hat mich gefragt, wann die nächste sein würde. Aber das hat nun gar nichts mit dem Grund meines Briefes zu tun. Also, nachdem wir noch ein wenig geplaudert hatten und ich ihm noch mehr von Dir erzählt hatte (glaube mir, Alpha, ich habe Dich in höchsten Tönen gelobt:), hat er gemeint, das hätte er liebend gern früher gewußt. Dann bat er mich, Dir zu schreiben und Dich einzuladen, zurückzukommen und eine Stelle im Museion anzutreten, samt Riesengehalt und allem Drum und Dran. Anschließend hat er auch mir eine Stelle angeboten (Dionysios ist schon ganz grün vor Neid), aber eigentlich möchte er Dich haben. Meiner Meinung nach ist er in Wirklichkeit hinter technischen Sachen her. Er hat mir immer wieder erzählt, wie toll diese Wasserschnecke sei, und als ich ihm meinen Diopter gezeigt habe, wollte er ihn unbedingt kaufen. Da habe ich ihm erklärt, daß ich eher mein Haus und meinen letzten Mantel verkaufen würde. Daraufhin hat er gelacht und gemeint, er würde es mir nicht übelnehmen. Ich habe ihn aber schon vorgewarnt, daß du kein Interesse hast, noch mehr Wasserschnecken zu bauen, und er meinte, das ginge schon in Ordnung. Ich weiß ja, daß Du gern Maschinen baust, wenn’s nur nicht immer dieselben sind und sie Dich nicht von der Geometrie abhalten. Schreibe ihm oder auch mir, wenn Du willst, dann wird er Dir sofort eine Bevollmächtigung schicken. Bitte, Alpha, komm schnell zurück! Warum willst Du in Syrakus arm bleiben, während Du hier in Alexandria reich sein kannst? Falls Du Dir Sorgen um Deine Familie machst, dann bring sie doch einfach mit. Hier ist es sowieso sicherer, und keine knoblauchfressenden Barbarenheere weit und breit. Was mich betrifft, ich sieche während Deiner Abwesenheit dahin, besser gesagt, ich würde es tun, wenn ich nicht zum Trost hin und wieder Doras Kuchen verspeisen würde. Übrigens: die Bankette im Museion haben homerische Ausmaße. Die These, die Diodotos angeblich bewiesen hat, ist.«