Es folgten mehrere Seiten mit abstrusen, geometrischen Erörterungen, die Hieron überblätterte. Er las nur noch den herzlichen Abschiedsgruß und die noch innigere Hoffnung, daß der Schreiber den Empfänger recht bald wiedersehen möge, »bei Hera und allen Unsterblichen!« Dann faltete er den Brief wieder zusammen und legte ihn mit einem Seufzer hin.
»Nun?« fragte Agathon.
»König Ptolemaios bietet ihm das Museion an«, sagte der König resigniert.
Agathon nahm den Brief zur Hand und musterte ihn mit einem schiefen Blick. »Es ist nicht das königliche Siegel«, stellte er fest.
»Nein«, pflichtete ihm Hieron bei. »Das Angebot kommt über einen Freund - ein enger Freund, dem Ton nach zu urteilen. Aber meiner Meinung nach ist es zweifelsohne ernst gemeint. Offensichtlich war Ptolemaios von einem Bewässerungsapparat schwer beeindruckt. Ich werde Archimedes fragen müssen, wie er funktioniert.« Er wedelte mit der Hand Richtung Brief. »Versiegle das besser wieder und gib ihn zurück.«
»Du willst nicht, daß er verlorengeht?«
Niedergeschlagen schüttelte Hieron den Kopf. »Er würde es merken. Ich möchte lediglich die Antwort sehen.« Damit wandte er sich wieder seinen anderen Briefen zu. Die meisten kamen aus der Stadt selbst und waren geschäftlicher Art, aber einer stach ihm ins Auge. Agathon war schon im Gehen begriffen, da hob er die Hand, um den Türhüter aufzuhalten. »Eine Nachricht von Archimedes persönlich«, sagte er, dann überflog er sie. »Er meint, der Drei-Talenter wäre in drei Tagen fertig. Nach dem Probeschießen lädt er mich auf dem Rückweg in die Stadt zu einem kurzen Besuch in sein Haus ein, entweder zum Essen oder einfach nur zu Wein und Kuchen.«
»Er will etwas«, erklärte Agathon kategorisch.
»Gut!« antwortete Hieron. »Er kann es haben.« Er klopfte mit der Einladung gegen den Tisch. »Dieser andere Brief - verzögere ihn, bis ich weiß, was er will. Und erkläre demjenigen, der ihn übernimmt, er soll sagen, man hätte den Brief verlegt, bis er persönlich gekommen sei, um das Schiff abzufertigen.«
Agathon schaute seinen Herrn zweifelnd an. »Findest du nicht, daß du an diesen Mann mehr Zeit verschwendest, als er verdient?«
Hieron warf ihm einen entnervten Blick zu und erwiderte: » Ari-stion, denk doch mal eine Minute nach. Vor kurzem habe ich noch die Idee einer Flottenattacke auf Messana durchgespielt. Wenn ich so etwas wirklich durchführen möchte, müßte ich dafür mehrere Schiffe miteinander vertäuen und darauf Plattformen für Geschütze montieren. Das Ganze müßte stabil genug sein, um das Gewicht des Katapults auszuhalten, sonst wären beim ersten Schuß nur noch Trümmer übrig. Außerdem müßte ich den messanischen Hafenverteidigungsanlagen contra geben können, das heißt, ich brauchte jemanden, der noch aus sicherer Entfernung ihre Reichweite und Schlagkraft berechnen kann. Anschließend brauchte ich Sturmleitern - und das in der richtigen Höhe, sonst hätten wir wegen nichts und wieder nichts eine Menge Toter. Ferner Rammböcke, die stark genug sind, um ihren Zweck zu erfüllen, und im Einsatz doch wieder leicht zu handhaben. Mit anderen Worten, Erfolg oder Scheitern eines derartigen Angriffs hinge voll und ganz von meinem Ingenieur ab. Nun, Kallippos ist zwar gut, trotzdem würde ich nicht meine ganze Flotte in der Hoffnung aufs Spiel setzen, daß er’s richtig macht. Dagegen gäbe es bei Archimedes kein Risiko. Erstklassige Technik - das ist der eigentliche Unterschied zwischen Sieg und Niederlage. Nein, meiner Ansicht nach verschwende ich nicht zuviel Zeit damit.«
»Oh«, machte Agathon beschämt.
»Du und Philistis«, fuhr der König lächelnd fort, »ihr mögt Archimedes nicht, weil ihr glaubt, er hätte mich respektlos behandelt.«
»Hat er ja auch!« sagte Agathon erregt. »Noch gestern früh.«
»Aristion! Wenn einer kommen würde, um dich zu verhaften, würde ich mich auch respektlos benehmen!«
Agathon grunzte ärgerlich. Unter diesem Aspekt hatte er darüber noch gar nicht nachgedacht.
»In Wirklichkeit hat er mich genauso behandelt, wie ich es mir wünsche. Außerdem hat er mir erklärt, ich sei eine Parabel. Ich finde, das ist das ungewöhnlichste Kompliment, was man mir je gemacht hat. Gut möglich, daß ich’s mir auf mein Grabmal meißeln lasse.«
»Wenn du das sagst«, antwortete Agathon, der keine Ahnung hatte, was eine Parabel war. Er war noch längst nicht überzeugt. Nach einem Moment fragte er mit tiefer Stimme: »Und was wird aus der Flottenattacke?«
Hieron schüttelte den Kopf und wandte sich wieder seiner Post zu. »Geht nicht, solange ich nicht weiß, wo die Römer stecken und wie sich die Karthager im Falle eines Erfolges verhalten würden. Aber die Sache mit der erstklassigen Technik stimmt. Wenn wir unsere Katapulte nicht gehabt hätten, würden die Römer noch immer vor der Nordmauer hocken und sich von den Feldern unserer Bauern ernähren.«
Der Drei-Talenter »Schönen Gruß« wurde genau zur festgelegten Zeit im Hexapylon installiert. Archimedes war damit nicht zufrieden. Er ließ sich nur schwer drehen, der Lademechanismus war heikel, und die Reichweite lag seinem Gefühl nach unter dem, was möglich war. Alle anderen waren dagegen über die Maschine entzückt - das größte Katapult der Welt! Als sich nachmittags beim Probeschießen der erste Riesenstein genau in das Feld bohrte, wo erst eine Woche vorher Römer gestorben waren, brach ein riesiges Jubelgeschrei aus. Der Königssohn Gelon hatte gebettelt, daß er mit seinem Vater zu diesem Schauspiel gehen durfte. Sein schriller Jubel übertönte alle anderen.
Den ganzen Weg zur Stadt zurück redete der kleine Junge begeistert auf Archimedes ein. Er saß vor seinem Vater im Sattel und beugte sich herunter, um seine Ideen für eine Verbesserung der Verteidigungsanlagen von Syrakus zu erklären. Archimedes reagierte irritiert und erleichtert zugleich auf das plappernde Kind, denn innerlich scheute er wie ein Hund vor einem Skorpion vor dem Moment zurück, in dem er den König um die Hand seiner Schwester bitten mußte. Alles war einfacher als ein Gespräch mit Hieron. Aber auch ohne die bedrückende Last seiner unerhörten Bitte, die drohend immer näher rückte, hätte Archimedes die Gesellschaft Hierons als anstrengend empfunden. Der König versuchte ständig, ihn zu überzeugen, er solle sich doch ein Pferd leihen. Für Archimedes waren Pferde gefährliche, übellaunige Riesentiere, die ihn höchstwahrscheinlich abwerfen und zertrampeln würden. Deshalb blieb er lieber auf seinen eigenen Füßen.
Anläßlich des königlichen Besuches hatte sich das Haus am Löwenbrunnen beinahe bis zur Unkenntlichkeit verändert. Entsetzt hatten Arata und Philyra erfahren, daß Archimedes den König zu Kuchen und Wein eingeladen hatte. Es war schon schockierend genug gewesen, daß eine derart hochgestellte Persönlichkeit während der Totenwache aufgetaucht war, aber damals war es wenigstens nicht nötig gewesen, für eine Unterhaltung zu sorgen, die dem Status des Gastes angemessen war. Weil man aber Hieron schlecht wieder ausladen konnte, hatten sie sich darangemacht, die Familienehre zu wahren. Man hatte das Haus gefegt, frisch mit Lehm verputzt und mit Girlanden verziert, und aus dem Hof waren sämtliche Waschbretter und Eimer verschwunden. Jetzt wirkte er ziemlich leer und traurig. Im Eßzimmer tropfte Honig aus den Sesamkuchen vom besten Zuckerbäcker in ganz Syrakus auf die schönsten Taraser Tonteller, und in der antiken, rotfigurigen Mischschale zitterte dunkler Wein vom besten Weinhändler. Die Sklaven hatten neue Kleider bekommen und standen bei Hierons Ankunft frisch gewaschen und verlegen an der Tür, um ihn zu begrüßen. Der König sah sie an und wußte sofort, daß er sich schwer anstrengen mußte, wenn dieser Besuch ein Erfolg werden sollte.