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Da stürzte Archimedes durch die Tür, sank neben dem Bett auf die Knie und schlang die Arme um den ausgemergelten Körper seines Vaters. »Es tut mir ja so leid!« stieß er erstickt hervor. »Ich habe nicht... wenn ich gewußt hätte...«

»Mein Archimedion!« rief Phidias und legte die zerbrechlichen Arme um seinen Sohn. »Du bist zu Hause, den Göttern sei Dank!«

»Ach, Papa!« schluchzte Archimedes und brach in Tränen aus.

Draußen im Hof zerrte inzwischen Marcus das Gepäck von der Straße herein und schloß die Tür. Als er sich wieder zum Haus umdrehte, nahm ihn Sosibia bei den Schultern und gab ihm einen leichten Kuß auf die Wange. »Auch dir ein herzliches Willkommen daheim!« sagte sie leise. »Ich wünschte, es wäre ein glücklicheres Haus.«

Verblüfft schaute er sie an. Gegen seinen Willen war er gerührt, denn er und Sosibia waren nie Freunde gewesen. Schon bei der ersten Begegnung hatte sie ihm rundheraus erklärt, daß sie nicht die geringste Absicht hatte, ihm den Platz des verstorbenen Hausdieners in ihrem Bett einzuräumen, auch wenn man ihn vielleicht als Ersatz dafür gekauft hatte. Zuerst hatte Marcus kein Wort verstanden. Damals war er erst achtzehn gewesen, frisch aus Italien, und hatte fast kein Griechisch verstanden. Aber als ihm dann endlich ein Licht aufging, stellte er seinerseits ein für allemal klar, daß ihm schon beim Gedanken daran schlecht wurde, er müsse mit einer biederen, gut vierzigjährigen Haussklavin schlafen. Verständlicherweise hatte diese einstimmige Abwehrreaktion bezüglich der Schlafregelung keinerlei wohlwollende Gefühle zur Folge. Das Ergebnis war eine jahrelange Fehde, in der Sosibia höhnisch über den rohen Barbaren Marcus herzog und Marcus Sosibia als altes Sklavenweib verachtete. Und jetzt hieß sie ihn willkommen. »Nun«, meinte er barsch, »es tut gut, hier zu sein.«

Dann trat Stille ein. Schließlich nickte er den beiden Kindern zu, die hinter ihrer Mutter standen und zuschauten: Chrestos, ein fünfzehnjähriger Junge und die dreizehnjährige Agatha. »Ihr zwei seid gewachsen«, bemerkte er und dachte im stillen: Noch ein Grund, nicht willkommen zu sein. Vier erwachsene Sklaven - das war zuviel für einen Haushalt der Mittelschicht. Gut möglich, daß man Chrestos verkaufen würde, jetzt wo Marcus wieder da war. Aber weil Sosibia diese unbequeme Aussicht verdrängt hatte, kümmerte auch er sich nicht weiter darum. Statt dessen sagte er: »Als wir zum Haus kamen, habe ich mir im stillen gedacht, daß eine Menge Arbeit auf mich wartet. Dabei hatte ich ganz vergessen, daß es inzwischen noch einen anderen Mann gibt.«

Chrestos grinste. »Willkommen daheim, Marcus«, sagte er. »Wenn du willst, kannst du gern meine Arbeit übernehmen!« Seine kleine Schwester lachte. Plötzlich schlich sie nach vorne, küßte Marcus verlegen auf die Wange und flüsterte: »Willkommen daheim!«

Nicht daheim, sagte sich Marcus vor, aber teilweise war er trotzdem froh. Das erste Jahr seiner Sklaverei war ein einziger Alptraum gewesen. Schon beim Gedanken daran brach ihm noch immer der Schweiß aus. Aber hier in diesem Haus hatte der Alptraum ein Ende gefunden, und beim Erwachen hatte er sich in einer Welt wiedergefunden, in der vernünftige Regeln galten. »Tut gut, wieder dazusein«, erwiderte er barsch.

Wieder herrschte Stille. Schließlich deutete Marcus fragend mit dem Kopf zur Tür auf der anderen Seite des kleinen Innenhofes hinüber. »Stirbt der alte Mann?«

Sosibia zögerte, dann machte sie ein Zeichen gegen das Böse und nickte. »Gelbsucht«, antwortete sie resigniert. »Der arme Mann, jetzt kann er nicht mal mehr essen. Lebt nur noch von Gerstenbrühe und ein bißchen Honigwein. Lang wird’s nicht mehr gehen.«

Marcus dachte über Phidias nach: ein liebenswürdiger Mensch, ein ehrlicher, hart arbeitender Bürger, ein liebevoller Ehemann und Vater. Ein guter Herr, auch wenn er dem Mann diese Tatsache übelnahm. Trotzdem war Phidias nicht an seinem Sklavendasein schuld. »Tut mir leid«, sagte er aufrichtig, dann fügte er mit rauher Stimme hinzu: »Die Götter haben uns sterblich gemacht. Es wird uns alle treffen.«

»Er hat ein gutes Leben gehabt«, sagte Sosibia. »Ich bete, daß ihn die Erde freundlich aufnimmt.«

Eine halbe Stunde blieb Archimedes bei seinem Vater. Erst als der Sterbende eingeschlafen war, zog er sich zurück. In jener Nacht hatte er keinen Kopf mehr für etwas anderes. Sosibia und seine Mutter richteten ihm in seinem alten Zimmer ein Bett her, er legte sich hin und versuchte, im Schlaf zu vergessen.

Am nächsten Morgen wachte er früh auf. Er blieb noch eine Zeitlang liegen und betrachtete die Muster, die die aufgehende Sonne auf die Wand neben seinem Bett zeichnete. Der Fensterladen bestand aus kreuzweise verflochtenen Weideruten, die sich auf dem gekalkten Verputz als orangefarbene Stäbe und Dreiecke abzeichneten. Als die Sonne höher stieg, wurde das Licht blasser, und die Dreiecke verschoben und erweiterten sich. Schließlich rutschten sie von der Wand auf sein Bett und breiteten sich in einem leuchtenden, unregelmäßigen Muster über die Decke aus. Das Ganze erinnerte an frische Elfenbeinplättchen.

Seine Augen brannten. In Alexandria hatte er für seinen Vater ein Spiel gekauft, eine Serie aus rechteckigen und dreieckigen Elfenbeinplättchen. Man konnte sie zu einem großen Rechteck zusammenbauen oder daraus ein Schiff, ein Schwert, einen Baum und Hunderte von anderen Figuren formen. So ein Puzzle begeisterte jeden Mathematiker, auch ihn. Deshalb war er überzeugt gewesen, daß es auch seinem Vater gefallen würde. Aber jetzt war jedes Geschenk für seinen Vater fürs Grab bestimmt. Diese unverrückbare Tatsache wirkte sich derart zerstörerisch aus, daß er sich fühlte, als ob man ihm die Hälfte seiner Seele geraubt hätte.

Phidias war der einzige Mensch gewesen, der den Heranwachsenden wirklich verstanden hatte. Oft hatte Archimedes das Gefühl gehabt, alle anderen hätten mitten im Kopf einen blinden Fleck. Sie konnten zwar ein Dreieck, einen Kreis oder einen Würfel anschauen, aber sehen konnten sie sie nicht. Und wenn man’s ihnen erklärte, dann begriffen sie es nicht. Und wenn man dann die Erklärung erklärte, starrten sie einen nur an und wunderten sich auch noch lautstark darüber, wie einem so etwas wie ein großes Wunder vorkommen konnte. Und doch war es ein unaussprechliches Wunder. Da gab es tatsächlich eine ganze Welt, eine Welt jenseits der stofflichen Existenz, eine strahlend helle Welt aus reinster Logik, und doch konnten sie sie nicht sehen! Nur Phidias hatte sie gesehen. Er hatte sie Archimedes gezeigt und ihm ihre Gesetze und Regeln beigebracht und seine erstaunten Äußerungen begleitet. Und als Archimedes älter wurde, hatten sie sich gemeinsam an die Eroberung dieser Gegenwelt gemacht. Wie zwei Verschworene hatten sie gemeinsam über einem Abakus gelacht und über Axiome und Beweise disku-tiert. An klaren Nächten waren sie zusammen auf die Hügel spaziert, um das Auf- und Untergehen der Sterne zu beobachten und die einzelnen Mondphasen zu studieren. Von allen Syrakusern waren nur sie beide in dieser unsichtbaren Welt zu Hause gewesen. Die anderen - selbst die engsten und liebsten Mitmenschen - blieben für immer Außenseiter.

Phidias war es gewesen, der Archimedes die Reise nach Alexandria vorgeschlagen hatte. »Auch ich bin damals in deinem Alter gegangen«, sagte er, »und habe noch Euclid persönlich gehört. Du mußt gehen.« Er hatte einen Weinberg verkauft, auf den er eigentlich nicht verzichten konnte, und sich von einem Sklaven getrennt, ohne den er nur mühsam zurechtkam, nur damit sein Sohn am geistigen Mittelpunkt der Welt Mathematik studieren konnte. Und Alexandria war genauso gewesen, wie es Phidias versprochen hatte - und noch viel, viel mehr. Zum ersten Mal war Archimedes auf andere Menschen gestoßen, die verstanden hatten. Einige davon waren sogar junge Männer in seinem Alter. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er sich nicht wie eine Mißgeburt gefühlt. Zum ersten Mal hatte er es gewagt, sich außerhalb seines eigenen Hauses mental zu öffnen. So weit hatte er seinen Verstand geöffnet, bis er den Himmel umarmen konnte, und dann waren die Ideen herangestürmt. Scharenweise hatten sie sich aufgedrängt. Eine gegen alle, alle gegen einen. Was war das für ein brodelnder Kriegstanz gewesen! Eine Befreiung, berauschender als in seinen kühnsten Träumen.