Gelon sauste davon, um seiner Mutter das Gerät zu zeigen, während Hieron auf seine Bibliothek deutete.
Drinnen in dem kleinen, stillen Raum zündete der König die Lampen an, dann setzte er sich auf die Liege und bat Delia, sich ebenfalls zu setzen. Sie gehorchte steif. Sie war noch immer über ihre eigene Ohnmacht wütend und verzweifelt und dementsprechend verkrampft. »Hat dich Archimedes gefragt, ob er mich heiraten könne?« wollte sie wissen, bevor Hieron noch die geringste Chance zum Sprechen gehabt hatte.
Er nickte. Ihre Hast verblüffte ihn.
»Er sagte, er würde es tun«, erklärte Delia. Sie warf einen raschen Blick auf ihre Hände, die sie fest gegeneinandergepreßt hatte. Dann schaute sie ihrem Bruder direkt in die Augen. »Ich habe ihn nicht darum gebeten«, erklärte sie stolz. »Hieron, ich werde heiraten, wen du willst, und wäre froh, wenn du davon einen Nutzen hättest. Ich schwöre bei Hera und allen unsterblichen Göttern, daß ich lieber mein ganzes Leben Jungfrau bleibe, als gegen deinen Willen zu heiraten.«
Plötzlich wurden seine Züge vor tiefer Zuneigung weich. »Ach, Delia!« rief er und ergriff ihre beiden wütenden Hände. »Mein Herzensschatz, du hast dir schon immer einen Platz in meinem Herzen erwerben wollen und hast nie geglaubt, daß du ihn längst besitzt.«
Auf Zorn war sie gefaßt gewesen, aber dieser Zärtlichkeit war sie nicht gewachsen. Sie fing zu weinen an und zog ihre Hände weg, um die Tränen zurückzudrängen, aber vergeblich.
Er machte keine Anstalten, sie festzuhalten. Er kannte sie und wußte, daß sie wegen ihrer Tränen auf sich selbst wütend war und keinen Wert auf Mitgefühl legte. Statt dessen fuhr er leise fort: »Ich habe Archimedes lediglich gesagt, daß ich mit dir reden und mich vergewissern möchte, ob du eine bewußte Entscheidung getroffen hast. Anscheinend hat er gedacht, das wäre auch in deinem Sinne.«
Sie weinte noch heftiger. »Nicht, wenn du’s nicht willst.«
»Schwester«, sagte er mit einem Anflug von Ungeduld, »ich will doch diesen Mann nicht heiraten. Ich versuche doch nur, herauszufinden, ob du ihn heiraten willst.«
Sie schluckte mehrmals. »Ja, aber nicht gegen deinen Willen!« brachte sie dann heraus.
»Laß meine Wünsche mal für einen Augenblick beiseite! Ich möchte sichergehen, daß du verstehst, was du von einem solchen Ehemann erwarten kannst. Du magst sein Flötenspiel, aber eine Ehe ist mehr als Musik. Du weißt, daß die ganze Seele dieses Menschen der reinen Mathematik gewidmet ist, ja? Wenn du ihn heiratest, wird er sich regelmäßig an Einfällen berauschen und darüber alles andere vergessen, einschließlich dich. Er wird nie rechtzeitig zu Hause sein oder daran denken, dir an Festtagen ein Geschenk zu kaufen. Genausowenig wird er an das denken, was er auf deinen besonderen Wunsch hin vom Markt mitbringen sollte. Er wird sich nicht im geringsten für deinen Alltag interessieren. Wenn du ihn bittest, deinen Besitz zu verwalten, dann wäre das dasselbe, wie wenn du von einem Delphin erwartest, daß er einen Ochsenkarren zieht. Du müßtest alles selbst in die Hand nehmen. Er wird auch nie merken, wenn du dich über etwas aufregst, bis du ihn mit der Nase daraufstößt, und dann wird er total perplex sein. Er wird dich enttäuschen und zur Weißglut bringen, viele, viele Male, in vielen, vielen Dingen.«
Sie konnte ihn nur anstarren. Der Schock hatte ihre Tränen versiegen lassen. Sie erkannte sofort, daß alles ziemlich der Wahrheit entsprach - Archimedes hatte sie ja tatsächlich vor sich selbst gewarnt. Und doch hatte sie genug von ihm gesehen und gehört, um zu wissen, daß dies nicht die ganze Wahrheit war. Denn trotz seiner Liebe zu dieser Sirene mit der honigsüßen Stimme hatte er ein warmes Herz und liebte seine Familie ohne Einschränkung. Die Aussicht auf Tausende von kleinen Frustrationen konnte nicht im geringsten die großartige Aussicht auf einen lebenslangen Tanz am Rande der Unendlichkeit trüben. Sie hob den Kopf und sagte entschlossen: »Vielleicht wird er mich in Kleinigkeiten enttäuschen, aber nie in großen Dingen. Und was die Musen betrifft - sie sind große, wunderbare Gottheiten, denen ich selbst diene. Und«, ihre Stimme wurde lauter, »und - zur Verwaltung meines Besitzes brauche ich ihn nicht. Ich würde gerne lernen, wie das geht, um die Dinge selbst in die Hand nehmen zu können. Ich möchte nicht«, ihre Hand schnappte hilflos nach Luft, »die ganze Zeit nur dasitzen und warten müssen!«
»Aha«, sagte Hieron, »du weißt also, wie er ist, und willst ihn trotzdem heiraten? Dann hör mir mal gut zu. Sagen wir mal, ich würde Philistis gerne ein Geschenk kaufen. Ich könnte ihr eine Olivenpresse für einen ihrer Bauernhöfe kaufen oder ein Faß zum Ansetzen von Fischsauce oder vielleicht auch einen neuen Weinberg -alles nützliche und erstrebenswerte Dinge, für die sie sich zweifelsohne bedanken würde. Aber wenn ich ihr einen Seidenmantel mit gestickter Bordüre schenken würde, bekäme sie strahlende Augen und ich einen Kuß. Diesbezüglich kennst du sie genausogut wie ich. Doch nun zu dir: Du hättest mir einen neuen Verwandten mit Einfluß oder mit Beziehungen oder mit Geld bringen können, und ich hätte mich bei dir dafür bedankt. Aber als Archimedes um deine Hand angehalten hat, hat er mir alles angeboten, was sein Verstand erfinden und seine Hände formen können. Philistis war sicher noch nie so glücklich über einen Seidenmantel wie ich darüber. Schwesterherz, du hättest keinen Mann aussuchen können, der mir besser gefällt.«
Sie sah ihn genauso an wie Archimedes: zuerst ungläubig, dann erstaunt und schließlich glückselig. Zuletzt umarmte sie ihn stürmisch und küßte ihn.
Am nächsten Tag wurde die Verlobung offiziell bekanntgegeben. Dieses Ereignis verdrängte in der Stadt selbst die Römer für einige Zeit als Hauptgesprächsthema. Allgemein kam man zu der Auffassung, der König hätte seine Schwester für die größten Katapulte der Stadt eingetauscht, eine Geste, die ihm die Bürger von Syrakus als Ausdruck höchsten Gemeinschaftssinnes anrechneten. Nur einige Frauen fanden das doch ein bißchen hart für die Schwester. Königin Philistis war schockiert, faßte sich aber rasch wieder und ging sofort daran, der Verbindung wenigstens einen Hauch von Ehrbarkeit zu verleihen. Es gelang ihr, die Frauen der Aristokratie und selbst ihren entsetzten Vater zu gewinnen. Klein-Gelon war hellauf begeistert, wogegen Agathon absolut mißbilligend reagierte.
Die Reaktion im Hause in der Achradina schwankte zwischen Verblüffung und Panik. »Aber Medion!« jammerte Philyra. »Was sollen wir nun mit dem Haus anfangen? Du kannst doch unmöglich die Schwester des Königs hier leben lassen!«
Archimedes betrachtete das Haus, in dem er geboren worden war, und meinte dann zögernd: »Wir werden umziehen. Es gibt da ein Haus auf der Ortygia, das zu Delias Erbe gehört.«
»Ich will aber nicht auf der Ortygia wohnen!« protestierte Philyra wütend.
»Aber Dionysios muß es«, sagte Archimedes erstaunt, »und ich dachte.« Unter den wütenden Blicken seiner Schwester hielt er verblüfft inne. Philyra und Arata hatten an Dionysios Gefallen gefunden und Archimedes erklärt, er könne zu einem passenden Zeitpunkt seine Zustimmung zu dieser Verbindung geben. Jetzt wußte er nicht, was am gegenwärtigen Zeitpunkt unpassend war, aber Mutter und Schwester verzogen gemeinsam das Gesicht über diese ungebührliche Hast.
»Jetzt geht’s doch um das Haus selbst!« rief Philyra kläglich. Sie war den Tränen nahe. »Medion, warum mußt du nur alles so schnell verändern?«
»Was soll ich denn tun?« wollte er entnervt wissen. »Mich weigern, Katapulte zu bauen, wenn die Stadt sie braucht? Mich dumm stellen? Delia ignorieren?«
»Ich weiß es nicht!« schrie Philyra. »Ich weiß es nicht, aber alles geschieht viel zu schnell!« Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und ging weg, um sich auszuweinen.