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Auch Arata hätte am liebsten geweint, ließ es aber bleiben und sah sich nur tieftraurig in dem alten Haus um. Hier war sie glücklich gewesen, auch wenn sie schon seit einiger Zeit gewußt hatte, daß sie eines Tages ausziehen würden. Das war ihr in dem Moment klargeworden, als sie begriffen hatte, daß sich Könige um die Talente ihres Sohnes reißen würden. Sie hatte sich mit dem Umzug abgefunden und war bereit, einen neuen Lebensstil zu lernen. Die Aussicht auf eine königliche Schwiegertochter beunruhigte sie, aber dann dachte sie sich, daß das Mädchen beim näheren Kennenlernen sicherlich nett sein müßte, da ihr Sohn über diese Verbindung so ungeheuer glücklich war. Wenn doch nur nicht all diese Veränderungen auf einmal gekommen wären. Das war der einzige Wunsch, den sie mit Philyra teilte. Im Juni hatte ihr Mann noch gelebt, und sie hatte gedacht, ihr ruhiges Mittelschichtleben würde immer so weitergehen. Jetzt war es August, ihr Sohn würde demnächst die Schwester des Königs heiraten und ihre Tochter den Hauptmann der Ortygia-Garnison, die Familie war auf dem besten Weg zu unvorstellbarem Reichtum und - ihr Mann war tot. Diese letzte, brutale Tatsache betäubte noch immer ihre Sinne und verwandelte alle anderen Veränderungen in beinahe unüberwindliche Hindernisse.

»Und ich dachte, sie wäre glücklich, wenn wir alle auf der Ortygia leben würden!« beklagte sich Archimedes gereizt bei seiner Mutter. »Ich dachte, sie wollte uns in der Nähe haben!«

»Ja, mein Schatz«, sagte Arata geduldig, »das wird sie sicher auch sein. Es geht doch nur darum, daß alle Veränderungen auf einmal anstehen und uns der Verlust deines Vaters noch immer schmerzt.«

Bei diesen Worten kam ihr Sohn herüber und umarmte sie. »Ich wünschte, er würde noch leben und könnte uns sehen.«

Arata lehnte ihren Kopf an sein Schlüsselbein und stellte sich in Gedanken vor, wie Phidias mit tiefster Freude bei der Hochzeit seines Sohnes zuschauen würde. Dieses Bild trieb ihr die Tränen in die Augen. »Er wäre so stolz gewesen«, flüsterte sie und fand sich damit ab, daß sie weitermachen mußte.

Im Athener Steinbruch erfuhr Marcus von den Wachen die Neuigkeit.

Zuerst hatten ihn die Männer der Ortygia-Garnison rauh angefaßt und jede Gelegenheit genutzt, um ihn zu bestrafen. Sie wußten, daß er den Mördern Stratons geholfen hatte, und Straton hatte viele Freunde gehabt. Trotzdem war Marcus der einzige unter den Gefangenen, der wirklich fließend Griechisch sprach, weshalb man seine Dienste als Dolmetscher jeden Tag Dutzende Male in Anspruch nehmen mußte. Die Wachen konnten es kaum vermeiden, mit ihm zu reden, und nach einer absolut normalen Unterhaltung ließ sich auch ihr abgrundtiefer Haß nicht mehr aufrechterhalten. Die angekündigte Verlobung half wieder ein Stück weiter, denn die Garnison war daran genauso interessiert wie der Rest der Stadt, und die Gelegenheit, den Sklaven von Archimedes darüber auszufragen, war viel zu günstig, um sie sich entgehen zu lassen. Nachdem Marcus seinen anfänglichen Schock überwunden hatte, erzählte er bereitwillig von Flöten und von Alexandria und beteuerte, daß es dem König in erster Linie nicht um Katapulte gegangen war. »Archimedes hätte auf alle Fälle so viele gebaut, wie gebraucht werden«, sagte er. »Dafür mußte ihm der König nicht das Mädchen geben. Nachdem er den >Begrüßer< gebaut hatte, wollte ihm der König zweihundert Drachmen mehr bezahlen, als vereinbart, aber er hat es abgelehnt. >Ich bin Syraku-ser<, hat er gesagt, >ich werde mich nicht an dem bereichern, was Syrakus braucht<.«

Das beeindruckte die Wachen, nur einer fragte zynisch: »Und was hast du davon gehalten?«

»Ich habe mich gefreut«, sagte Marcus ruhig. »Ich habe immer geglaubt, daß ein Mann seine Heimatstadt lieben sollte.«

Nachdem die Wachen wieder auf ihre Posten gegangen waren, lehnte sich Marcus gegen die Hüttenwand und dachte lächelnd über die Neuigkeiten nach. Er wußte noch genau, wie Archimedes gestrahlt hatte, als er Delias Warnung bekommen hatte. Und er dachte daran, wie begeistert Delia bei dem mechanischen Versuch Beifall geklatscht hatte. Sein Stolz und seine Freude waren merkwürdig diffus. Es waren weder die Gefühle eines Freundes noch die eines Dieners. Vielleicht hatten sie etwas von einem älteren Bruder an sich, aber auch dieser Vergleich paßte nicht. Als loyaler Römer hätte er sich wünschen müssen, daß Archimedes Syrakus verließ, aber seine Freude kannte kein Bedauern. Der Junge hatte seine Sache gut gemacht, und nun wünschte er ihm viel Glück!

Am nächsten Morgen fingen die Besichtigungstouren an. Dreißig Gefangene wurden in Zehnergruppen aneinandergekettet und dann im Gleichschritt zum Hafen hinunter befördert. Dort zeigte man ihnen die Seemauern, die Handelsschiffe, die am Kai entlang vertäut waren und trotz des Krieges unbehindert ihrem Geschäft nachgingen, sowie die Kriegsschiffe, die man in die Bootsschuppen hinaufgezogen hatte. Marcus hatte man zum Übersetzen mitgenommen. »Falls die Gefahr einer Flottenattacke droht«, teilte der Reihenführer, der für die Gruppe verantwortlich war, den Gefangenen mit, »läßt sich der gesamte große Hafen mit einer Barriere absperren. Aber dazu habt ihr Kerle sowieso nicht die richtigen Schiffe, stimmt’s?«

»Warum zeigen sie uns das?« fragte einer der Gefangenen Marcus.

»Das verstehst du doch sicher, oder?« antwortete Marcus entrüstet. »Damit du dem Konsul erzählen kannst, daß er Syrakus nicht aushungern kann.«

Nachmittags wurden zwanzig weitere Gefangene ausgewählt und an der Stadtmauer entlang zum Euryalus-Fort gebracht, wo man ihnen die Katapulte zeigte. Dort standen zwei Hundert-Pfünder und die beiden Zwei-Talenter-Kopien von »Gute Gesundheit«. »In ein paar Tagen bekommen auch wir noch einen Drei-Talenter«, teilte ihnen der Hauptmann des Forts genüßlich mit. »Der Obermechaniker arbeitet schon daran.«

»Ich dachte, der käme auf den Hexapylon«, sagte Marcus.

Der Hauptmann des Forts starrte ihn überrascht an, während der Reihenführer murmelnd erklärte, wer Marcus sei. Der Hauptmann warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Der Hexapylon hat den ersten bekommen«, gab er zu, »aber man hat uns gesagt, unserer würde noch besser.«

»Du hättest ihn statt dessen um einen Zweihundert-Pfünder bitten sollen«, sagte Marcus.

Der Hauptmann zögerte unschlüssig. Einerseits gebot ihm sein Stolz, die Anmerkung eines Sklaven zu ignorieren, andererseits war er ganz versessen darauf, ein größeres Katapult als der Hexapylon zu haben. Die Gier behielt die Oberhand. »Könnte er das denn?« fragte er eifrig.

»Ganz bestimmt«, sagte Marcus, »aber nun hat er den DreiTalenter schon zur Hälfte gebaut. Zum Fragen ist’s jetzt zu spät.«

»Erklär denen da, daß er einen Zweihundert-Pfünder bauen könnte«, befahl der Reihenführer und deutete mit der Hand zu den übrigen Gefangenen hinüber.

Marcus nickte, drehte sich zu seinen Mitgefangenen um und berichtete lakonisch, das Fort erwarte einen Drei-Talenter und hätte gerne als nächstes einen Zweihundert-Pfünder.

»Gebaut von deinem ehemaligen Herrn, dem Flötenspieler?« fragte einer der Gefangenen.

»Ja«, gab Marcus zu, »das kann er wirklich, glaube mir.«

Die Gefangenen betrachteten die Munitionshaufen neben den Forttürmen - Hundert-Pfund-Geschosse und Zwei-Talenter-Steine -und sackten innerlich zusammen. »Warum zeigen sie uns das?« wollte einer wütend wissen.

»Damit wir es dem Konsul berichten«, antwortete Marcus. »Damit er weiß, daß er Syrakus nicht im Sturm nehmen kann.«

»Und warum wollen sie, daß wir ihm das berichten?«

Eine Minute stand Marcus stumm da und betrachtete die Gefangenen in ihren Ketten und die Wachsoldaten in ihren Rüstungen. »Damit er ein Friedensangebot macht«, sagte er. Sein Herz schlug schneller. Da wußte er, daß er recht hatte.

Am nächsten Tag gab es noch mehr Besichtigungstouren: eine auf die Ortygia und die andere zum Hexapylon, wo der Drei-Talenter vorgeführt wurde. Nicht alle Gefangenen waren so gesund, daß man sie durch die ganze Stadt schleifen konnte, aber jeder, der noch gehen konnte, bekam eine intensive Vorführung von syrakusischer Stärke und Pracht. Anschließend diskutierten sie untereinander unglücklich darüber und suchten Marcus auf, um Genaueres zu erfahren. Zuerst hatten sie ihn bei seinem Erscheinen als getarnten Spion verdächtigt, aber die anfängliche, feindselige Haltung der Wächter und seine offenmütig geäußerten Sympathien hatten sie davon überzeugt, daß er wirklich der Mensch war, als der er sich vorgestellt hatte. Wie Fabius waren auch sie der Ansicht, er sei sehr griechisch geworden, aber sie akzeptierten, daß man ihn wegen seiner Loyalität zu Rom mit ihnen eingesperrt hatte. Und so glaubten sie das meiste, was er ihnen erzählte.