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Früh am nächsten Morgen kamen zwei unbekannte Wächter in die Hütte und gingen die Reihen der Gefangenen entlang, bis sie zu Marcus kamen. Dann schlossen sie seine Fußeisen auf und sagten ihm, er solle aufstehen. Langsam erhob sich Marcus und wartete im Stehen stumm auf weitere Befehle, bis ihm der eine Mann einen Hieb versetzte. »Der König will dich sehen«, sagte er. »Mach schon!«

Bevor er dem Befehl gehorchte, bückte er sich noch rasch und nahm die Flötenschatulle mit - nur für den Fall, daß er nicht mehr wiederkommen sollte.

Die beiden Männer brachten ihn zum Pförtnerhaus hinunter, wo sie ihm einen Eisenkragen umlegten und die Hände fesselten. Er schaffte es gerade noch, sich die Flötenschatulle in den Gürtel zu stecken, ehe sie sie ihm entreißen konnten. Dann befestigten sie an dem Kragen eine Kette, als ob er ein Hund wäre, und rissen probehalber so heftig daran, daß er taumelte. »Ich werde bestimmt keinen Fluchtversuch unternehmen«, erklärte er ihnen milde, als er wieder Tritt gefaßt hatte.

»Ihr müßt nicht grob sein«, pflichtete der verantwortliche Reihenführer im Steinbruch bei, der das Ganze beobachtet hatte. »Er ist ein Philhellene.«

Bei diesem Attribut blinzelte Marcus. Also fanden auch die Wächter, daß er ganz griechisch geworden sei? Aber die Fremden starrten ihn nur wütend an, und einer sagte barsch: »Er hat mitgeholfen, Straton zu töten.« Jetzt konnte der Reihenführer nur noch die Schultern zucken.

Die beiden Neuen aus der Ortygia brachten Marcus durchs Tor auf die Straße hinaus, dann bogen sie nach rechts ab, Richtung Nea-polis. Beinahe wäre Marcus durch die Kette erneut umgerissen worden. Er hatte damit gerechnet, daß sie direkt zur Ortygia marschieren würden. »Wohin gehen wir?« fragte er amüsiert, bekam aber keine Antwort.

Sie gingen am Amphitheater vorbei und kletterten dann auf das Epipolae-Plateau hinauf, das an dieser Stelle gänzlich unbewohnt war und nur aus verdorrtem Gestrüpp bestand. Jetzt begriff er, daß sie erneut Richtung Euryalus gingen. Nach einem kurzen Seitenblick auf seine Wächter beschloß er, keine weiteren Fragen zu stellen. Er würde den Zweck dieser Reise noch früh genug erfahren.

Der Euryalus lag auf dem höchsten Punkt der Kalksteininsel Epi-polae, eine Trutzburg, von der aus das Land nach zwei Seiten hin abfiel. Als sie den Innenhof betraten, fanden sie dort jede Menge Soldaten vor, ein ganzes Bataillon aus zweihundertsechsundfünfzig Mann. In der Nähe des Äußeren Tores stand ein Pferd angebunden, das Marcus wiedererkannte. Sein Geschirr war mit Purpur behängt und mit goldenen Ziernägeln beschlagen. Die Wächter marschierten mit ihm zum Torturm hinüber und anschließend in den Wachraum hinauf. König Hieron war tatsächlich hier, mitten in einer Diskussion mit einer Anzahl hochrangiger Offiziere, von denen Marcus keinen kannte. Seine Wächter donnerten ihre Speere auf den Boden und blieben in Habachtstellung stehen, woraufhin der König flüchtig herüberschaute.

»Aha«, sagte Hieron, »gut.« Er ging durch den Raum, die Offiziere in ihren roten Mänteln hinterdrein wie der Seetang hinter einem Schiff. Vor Marcus blieb er stehen und musterte die Fesseln mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ihr habt wohl eine Vorliebe für Ketten, was?« Seine Bemerkung war an die Wächter gerichtet. »Aber vermutlich war’s ja gut gemeint. Marcus Valerius, wie geht’s deiner Stimme?«

»Meiner Stimme, königlicher Herr?« wiederholte Marcus erstaunt.

»Hoffentlich hast du dich nicht erkältet«, sagte Hieron. »Du siehst so aus, als ob du ein Paar kräftige Lungen hättest. Kannst du dir normalerweise Gehör verschaffen, falls es nötig ist?«

»Jawohl, königlicher Herr«, sagte Marcus, dem wilde Bilder von schreienden Menschen in einem Bronzestier durch den Kopf schossen. Obwohl er nicht daran glaubte, waren sie da.

»Gut. Deine Landsleute haben soeben beschlossen, auf diesem Weg zurückzukommen. Ich möchte ein paar Worte mit ihnen reden. Weil ich aber kein Latein spreche, brauche ich einen Dolmetscher. Du scheinst mir dafür der richtige zu sein. Bist du bereit, meine Worte so genau wie möglich zu übersetzen?«

Marcus schüttelte sich erleichtert, daß die Ketten nur so rasselten. Die meisten gebildeten Römer sprachen Griechisch, also ganz sicher auch der Konsul. Wenn Hieron einen Dolmetscher haben wollte, bedeutete das, daß er mit Absicht nicht nur von den Offizieren verstanden werden wollte, sondern auch von den Truppen. Wenn ihn aber der König tatsächlich mit den anderen Gefangenen zurückgeben wollte, könnte er Probleme bekommen, falls er jetzt als syrakusischer Dolmetscher auftrat. Da er andererseits gefesselt und offensichtlich ein Gefangener war, könnten ihm seine Leute schlecht einen Vorwurf daraus machen, daß er die Worte seiner Wächter übersetzt hatte. Außerdem hatte ihn Hieron immer gnädig behandelt. Beim Gedanken an die Freiheit wollte in ihm noch immer keine rechte Freude aufkommen, aber inzwischen konnte er sich vorstellen, daß sich die Freude rechtzeitig einstellen würde. Eine Sache war er der Gnade also noch schuldig. »Ich bin bereit, Herr«, sagte er.

Hieron lächelte, schnippte mit den Fingern und ging in den Hof hinaus. Die Wächter eskortierten Marcus hinter dem König her, während die Offiziere mit flatternden Scharlachmänteln und schimmernder Goldrüstung den Abschluß bildeten.

Der König bestieg seinen Schimmel, und unter Trompetengeschmetter öffneten sich die Tore des Euryalus. Hieron ritt voran, gefolgt von den Offizieren in Speerformation. Marcus fand sich zwischen seinen Wächtern unmittelbar hinter dem königlichen Pferd wieder. Ringsherum wogte die prächtig schimmernde Reiterschar der Offiziere. Nach ihm kam das Syrakuser Bataillon, das zu fröhlichen Flötenklängen in geschlossener Formation marschierte. Die langen Spitzen der Speere über den Schultern glitzerten in der Sonne, während ihre Schilde eine bewegliche Mauer bildeten, auf der eine endlose Reihe von Sigmas prangte, das Symbol ihrer Stadt.

Hinter einem Pferd und zwischen zwei kräftigen Wachsoldaten eingeklemmt, konnte Marcus zuerst nicht viel von der Szenerie vor sich erkennen, aber als sie die Anhöhe hinter sich gelassen hatten, machte die Straße eine Kurve und gab einen klaren Blick frei. Jetzt sah er mit eigenen Augen, daß die römische Armee tatsächlich nach Syrakus zurückgekehrt war. Auf dem flachen, fruchtbaren Land südlich des Plateaus hatte man ein neues Lager aufgeschlagen, ein schnurgerades Rechteck, das mit Wall und Graben und einem Palisadenzaun befestigt war. Davor stach ihm ein purpurgoldener Fleck ins Auge, und dann ein Reiter, der nur knapp unter ihnen den Hügel heraufkam. Aber dann waren sie auch schon um die Kurve herum, und der glänzende Rumpf von Hierons Pferd versperrte wieder den Blick.

Wenige Augenblicke später trabte der Reiter, der ihm aufgefallen war, den Hügel herauf und reihte sich neben dem König ein. Marcus sah, daß es ein Herold war. Zum Zeichen seines Ranges hielt er einen vergoldeten Stab über den Knien, der auf der ganzen Länge mit zwei ineinander verschlungenen Schlangen verziert war. Herolde standen unter dem Schutz der Götter, wer sich an ihnen verging, beging ein Sakrileg. Sie konnten sich frei zwischen feindlichen Armeen bewegen. Offensichtlich hatte man diesen hier schon früher vorausgeschickt, um die Verhandlung vorzubereiten.